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Daniela Janáková

Märchen vom Glück

Von Nixen, Heinzelmännchen und guten Geistern

titulní obrázek

Masarykova univerzita
Brno 2015

„Leben bedeutet träumen.“"
(Friedrich Schiller)

Von Daniel und dem Zauberschuh der Seenixe

Am Ufer der unüberschaubaren Weiten des Meeres stand eine kleine Hütte, in der arm aber zufrieden eine Fischerfamilie lebte. Spielende Wellen rauschten zum Gruß unter ihren Fenstern und hinterließen bei Ebbe am Sandstrand kleine Steinchen, bunte Muscheln und glitzerndes Perlmutt.

Die Familie hatte einen einzigen Sohn, der Daniel hieß. Der Knabe spielte am Sandstrand und sammelte kleine Schätze, die das Meer ans Ufer gespült hatte. Er baute große Sandburgen, die er mit Muscheln, glitzerndem Perlmutt und vom Meer geschliffenen Glasscherben verzierte. Von klein auf half er bereits seinem Vater, Netze zu reparieren und lernte ebenso wie er das weite Meer kennen und lieben. Dieser fuhr oft von Morgenrot bis Abendrot in seinem kleinen Fischerboot hinaus aufs Meer. Sein Fang war nie besonders groß, aber für das Auskommen seiner Familie reichte er immer.

Als der Knabe größer wurde, nahm ihn sein Vater ab und zu mit aufs Meer, aber wenn er weit hinaus fuhr, musste Daniel bei seiner Mutter bleiben. Oft saß er dann still am Strand und träumte von den ungesehenen, geheimnisvollen Weiten dort hinterm Horizont, wo die Sonne versank. Er wollte so gern das ferne Land kennen lernen, aber sein Vater nahm ihn nie auf so eine weite Reise mit. Auch der Vater selbst hatte sich nie so weit vorgewagt. Und so blieben Daniel nur die Träume.

Manchmal, wenn ein schrecklicher Seesturm tobte, spülten die Wellen Reste von untergegangenen Schiffen an den Strand. Der Fischer und seine Frau sammelten gebrochene Masten und Segelstangen als Brennholz. Dann lief Daniel barfuß am Strand entlang und half den Eltern die Holzstücke tragen. Ab und zu wagte er sich auch ins seichte Uferwasser, um schwimmende Holzteile einzufangen.

Einmal, als er sich nach einem Brett bückte, sah er unter Wasser etwas Glitzerndes. Vorsichtig schob er den feinen Sand zur Seite und zog einen kleinen, glänzenden Schuh hervor; ganz aus Schuppen gefügt, an den Rändern mit glitzerndem Perlmutt gesäumt und mit Korallen verziert. An der Schuhspitze leuchtete eine große Perle.

Daniel lief zu den Eltern und zeigte ihnen freudig seinen nicht alltäglichen Fang. Zusammen bestaunten sie den winzigen Schuh. Die Mutter lächelte freundlich ihren Sohn an und sagte:

„Daniel, bewahre das Schühchen gut auf, es gehört vielleicht einer guten Seenixe, die ihn suchen wird.“

Daniel gehorchte seiner Mutter und legte den Schuh zu seinem Spielzeug und sonstigen Schätzen, die er in einer Schachtel unter seinem Bett versteckt hielt.

Am Anfang beäugte er jeden Tag wieder und wieder den Schuh, bewunderte seine zerbrechliche Schönheit und träumte von der, der er vielleicht gehörte. Später legte er ihn zusammen mit seinen Jugendschätzen in sein Geheimversteck, das er sorgfältig bewachte. Mit der Zeit vergaß er ihn aber ganz.

Und die Jahre vergingen. Daniel wuchs und wuchs und wurde zu einem stämmigen Burschen. Vergangen waren die Kinderspiele, nur seine Träume vom fernen Land dort hinterm Horizont blieben ihm. Der Fischer nahm jetzt seinen Sohn oft mit auf die See. Seine Kräfte schwanden schnell und er freute sich, dass sein Sohn bald an seiner Stelle in See stechen würde.

Eines Abends kamen sie zusammen zurück vom Fischfang. Die Sonne ging gerade unter. Daniel saß im Boot, das Gesicht zum rotgoldenen Schein des Sonnenuntergangs gewandt. In dem Augenblick, als die Sonne die bläulichen Wellen berührte und ihre goldrote Korona sich übers Meer ergoss, schaute der Jüngling in die untergehende Sonne. Es schien ihm, dass er in unendlicher Weite das liebliche Bild eines wunderschönen Schlosses sähe, dessen Gemäuer, Türme und Dächer im Sonnenschein so hell glühten wie unzählige Spiegel. Er wollte das Wunder auch seinem Vater zeigen, aber bevor er dafür die Worte fand, erlosch die goldene Glut, die Sonne verschwand in den Wellen und das Zauberbild verflog im Zwielicht.

Als sie nach Hause kamen, erzählte Daniel seiner Mutter, was er gesehen hatte und sie erinnerte sich, dass ihr Großvater oft von der magischen Insel der Seenixen erzählt hatte, die weit, sehr weit im Meer war. Der Großvater war anscheinend einmal dort gewesen. Ein schrecklicher Sturm hatte ihn einmal hingeblasen, und ohne die Hilfe der Nixen wäre er in den Meeresfluten umgekommen. Er hatte erzählt, dass er so viel Schönheit wie dort im Leben nie wieder gesehen hatte.

Seit dieser Zeit, immer wenn Daniel am Abend das Meer betrachtete, schien es ihm, als ob genau in dem Moment, wenn die untergehende Sonne die bläulichen Wellen berührte, für einen Augenblick das Zauberschloss der Nixen aus den Fluten emporstiege. Der Jüngling sehnte sich danach, ins Boot zu steigen und dem lockenden Bild entgegenzusegeln.

Und wieder vergingen viele Jahre. Der Fischer war alt geworden und fuhr nicht mehr zur See. Er saß vor der Hütte, wärmte sich mit seiner Frau in der Sonne und sie reparierten zusammen die Netze.

Aus Daniel war ein starker, geschickter Bursche geworden, der das Fischerhandwerk von seinem Vater übernommen hatte. Die Eltern hatten an ihrem braven und arbeitsamen Sohn große Freude. Die Mutter machte sich keine große Sorge mehr, wenn er zum Fischfang weit auf die See hinausfuhr. Ein alter Aberglaube der Fischer besagt, wer bei der Taufe mit Meerwasser begossen wird, dem tut das Meer nichts an. Und dem war wirklich so. Manch grausame Stürme erlebte Daniel auf See, und trotzdem kehrte er immer munter und mit reichlich Fisch nach Hause zurück.

Und so lebten sie alle glücklich zusammen, bis eine heiße, stickige Nacht kam. Daniel kehrte wie üblich vom Fischfang zurück, aber obwohl er sehr müde war, in der Hütte einschlafen konnte er nicht. Er ging darum zum Strand um sich etwas zu erfrischen. Der Nachthimmel war mit tausenden Sternen besät, die sich wie goldene Schlüsselblumen auf einer Frühlingswiese in der See spiegelten.

Daniel setzte sich an den Strand und betrachtete die Sterne, als am dunklen Horizont ein matter Schein aufkam. Er wurde heller und heller, als in seinem Licht ein wunderschönes Schloss mit schlanken Türmchen erschien, strahlend, wie mit lauter Perlmutt besetzt. Es war dasselbe Schloss, das Daniel in seinen Träumen oder beim Abendrot auf der See gesehen hatte. Diesmal war das Bild aber viel deutlicher.

Daniel konnte von dem mitreißenden Anblick die Augen nicht abwenden. In seiner Seele entflammte voll seine fast vergessene Sehnsucht das Unbekannte zu erforschen, zu diesem geheimnisvollen Schloss zu segeln. Diesmal widerstand er der Sehnsucht, seinem Traum zu folgen, nicht. Er sprang ins Boot und ruderte dorthin, wo über dem Horizont der wunderbare, regenbogenfarbene Schein glühte.

Als seine Eltern am Morgen aufwachten und Daniel in der Hütte nicht fanden, dachten sie, dass er frühmorgens zum Fischfang aufgebrochen sei. Aber er war schon so weit von zu Hause entfernt, dass er nicht einmal die Konturen des heimatlichen Ufers mehr sah. Ringsum breitete sich nur endlose Wasserfläche aus. Müde von langem Rudern überfielen ihn plötzlich Hunger und Durst. Erst jetzt wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass er in der Eile vergessen hatte, Vorräte an Essen und Wasser mitzunehmen.

Die Sonne stieg höher und höher und Daniel hoffte, dass er unterwegs einem Boot begegnen oder wenigstens eine Insel mit einer Wasserquelle finden würde. Er ruderte weiter und weiter, so weit seine Kräfte reichten, aber es wurde Abend und von einem Boot oder Festland war nichts zu sehen. An eine Rückkehr dachte er dennoch nicht. Er legte die Ruder ins Boot und ruhte aus. Die Wellen schaukelten ihn nach und nach in einen tiefen Schlaf.

Das Boot wurde von der nächtlichen Finsternis ins Unbekannte abgetrieben. Plötzlich hielt es, und Daniel erwachte aus seinem Traum. Da erinnerte er sich seiner Eltern, die er wegen eines Traums ohne Abschied verlassen hatte, und Tränen drangen in seine Augen.

Ach, wenn ich wieder glücklich nach Hause käme, dachte er.
In diesem Augenblick teilten sich vor ihm die Fluten und auf der Oberfläche erschien ein schönes Mädchen in weißer Robe, mit rosa Orchideenblüten und glitzernden Perlen geschmückt. Um die Hüften hatte sie eine goldene Schärpe geschlungen. Sie schwebte über dem Meer und lächelte den überraschten Daniel an:

„Wohin des Weges, mutiger Bursche, nicht etwa deinem Traum hinterher?“ fragte das Mädchen scherzhaft.

„Ich kenne deinen Wunsch. Gern würdest du die Zauberinsel der Seenixen erblicken und aus der Nähe das strahlende Schloss und seine Bewohnerinnen betrachten. Es treibt dich die uralte menschliche Sehnsucht nach der Erforschung des Unbekannten. Ohne meine Hilfe würdest du aber im Meer umkommen. Niemals würdest du beim Schloss ankommen.

Nun, ich helfe dir, dass du das siehst, wonach du dich so sehr sehnst. Ich bin die Nixe Wella und erfülle deinen Traum. Ich verlange aber einen kleinen Dienst dafür. Wenn du auf der Zauberinsel den Seenixen, meinen Gefährtinnen und unserer Königin Agathea begegnest, vergiss nicht, sie zu fragen, wann mir verziehen wird.“

„Gern erfülle ich, worum du mich bittest, Wella, hilf mir nur, auf die Zauberinsel zu gelangen.“

„Gut, Daniel, ich erfülle deinen Wunsch, aber denke an dein Versprechen. Auf deinem Rückweg werde ich dich aufsuchen und deine Antwort anhören. Und nun vorwärts. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.“

Nach diesen Worten gab Wella dem Schiffchen ein Zeichen mit der Hand und dieses flog über die Wellen wie ein Vogel. Sie fuhren lange, sehr lange, bis sich auf einmal am Horizont der bekannte, dem Morgenrot ähnliche regenbogenfarbene Schein ausbreitete. Es war dunkle Nacht, aber Daniel erkannte bald in dem Schein die Umrisse des sehnsüchtig erwarteten Zauberschlosses, die sich langsam näherten und klärten. Schon erkannte er einen dichten Hain, welcher von allen Seiten das auf einem hohen Fels emporragende Schloss umgab. Das Schiffchen fuhr sanft auf das sandige Ufer auf und landete endlich.

„Wir sind am Ziel“, sagte Wella, „weiter musst du allein gehen, da ich die Zauberinsel nicht betreten darf. Binde dein Boot fest am Ufer an, du wirst es noch brauchen. Warte bis zum Vollmond, erst dann gehe zum Schloss und suche Königin Agathea auf. Du brauchst nichts zu befürchten. Die Nixen tun dir nichts, denn du kommst im Guten. Sei vorsichtig, Daniel, und mache deine Sache gut“, sagte Wella noch, winkte ihm zum Abschied und verschwand im Meer.

Schnell wurde es heller. Daniel band das Boot an einem Strauch am Ufer fest und schritt auf die Insel zu. Er ging durch den dichten Hain, dann durch einen Obstgarten, bis er zum mit wunderschönen weißen und rosafarbenen Blüten besetzten See kam. Zwischen Seerosen schwamm traurig ein einsamer weißer Schwan.

Daniel suchte nach einem Weg zum Schloss über den See. Da er aber nirgends eine Brücke fand, beschloss er, durch den See zu schwimmen. Schon war er dabei, in den See zu springen, als er den klagenden Schrei des weißen Schwans hörte, als ob er ihn warnen wollte. Daniel entschied sich also anders. Er fand im Garten ein Stück Rinde und bastelte daraus ein kleines Schiffchen. Dann schritt er wieder zum See hinab, legte das Schiffchen vorsichtig auf die Wasseroberfläche und wartete das weitere Geschehen ab. Im nächsten Augenblick verdunkelte sich das Wasser, mächtige Wellen stiegen auf, und auch wenn er gerade nur bis zu den Knien im See stand, hatte er größte Mühe, nicht von den Wellen umgeworfen und für immer verschluckt zu werden. Da erkannte der Jüngling den Sinn der Warnung des Schwanes. Wie gut war das Schloss vor ungebetenen Gästen geschützt!

Inzwischen war es fast hell geworden. Daniel setzte sich am Ufer des Sees ins Gras und blickte zum Schloss, das sich in all seiner Schönheit hoch über die Wasseroberfläche emporreckte. Im Schein der verblassenden Morgenröte flammte das Schloss auf wie eine helle Fackel in Tausenden von Farben. Nun aber wusste Daniel, woher der wunderschöne Pastellschein kam. Das ganze Schloss war mit schimmerndem Perlmutt ausgelegt, das im Schein der aufgehenden Sonne ständig seine Farben wechselte. Wenn die Sonne aber gänzlich am Himmel stand, verflüchtigte sich das wunderbare Bild.

Den ganzen Tag umrundete der Bursche den See, bemüht einen sicheren Weg zum Schloss zu finden. Auch beim zweiten und beim dritten Mal fand er keinen Weg. Er war müde, und so pflückte er etwas vom saftigen Obst, um seinen Hunger und Durst zu stillen. Dann legte er sich in das hohe duftende Gras und schlummerte ein.

Er ahnte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn plötzlich leiser Gesang und unbekannte Stimmen weckten. Vorsichtig hob er den Kopf. Welch eine berauschende Schönheit! In der nächtlichen Dunkelheit schimmerte das Schloss in tausend Farben und seine strahlende Silhouette spiegelte sich im See. Aus dem Fels und dem See sprossen viele Fontänen, deren auf den See fallende Tropfen kostbarsten Edelsteinen glichen. Daniel verfolgte dieses farbige Feuerwerk mit angehaltenem Atem.

In der Nähe ertönten zwei Stimmen. Der Jüngling drehte sich um und erblickte am Seeufer zwei schöne, sich unterhaltende Nixen. Als er ihnen aufmerksamer zuhörte, begriff er, dass eine von ihnen der weiße Schwan gewesen sein musste, der ihm am Tag zuvor durch seinen Warnruf das Leben gerettet hatte. Beide Nixen waren in schönste pastellfarbene Gewänder und reich gefaltete, durchscheinende Schleier gekleidet. Einer von ihnen fehlte aber am Fuß ein kleiner Schuh.

Vielleicht gerade deshalb darf sie am Tag nicht unter ihre Gefährtinnen und es ist ihr bestimmt, bis zum Abend ein weißer Schwan zu sein, dachte sich Daniel.

Das Gespräch der beiden Nixen ging zu Ende und der unglückliche „weiße Schwan“ am Ufer vereinsamte. Ihre Gefährtin lief fröhlich zu den anderen Nixen, die im glitzernden Schein der Wassertropfen tanzten und sangen. Daniel trat etwas näher und sein Herz hüpfte vor Freude. Denn der Schuh am Fuß der lieblichen Nixe glich aufs Haar demjenigen, den er als kleiner Bub nach einem Sturm am Strand gefunden hatte. Nun wusste er also, wem der gefundene Schuh gehörte. Er fasste Mut und trat aus seinem Versteck hinaus, verbeugte sich vor der Nixe und sagte:

„Ich bin Daniel, flüchte nicht vor mir, schönes Mädchen. Unbeabsichtigt hörte ich eurem Gespräch zu und weiß nun, dass du jahrelang den Verlust deines Schuhs beweinst. Ich will dir helfen, denn ohne deine Warnung hätte ich heute Morgen in den Fluten des Sees den Tod gefunden. Als kleiner Bub fand ich am Strand, nah unserer Hütte, genauso einen Schuh, wie der deine ist. Ich hob ihn zusammen mit meinen seltensten Schätzen gut auf. Sicher habe ich ihn noch irgendwo versteckt. Sage mir aber, welchen Wert der Schuh für dich besitzt?“

„Ich bin kein Mädchen, sondern die Seenixe Perlane, Daniel. Unsere Schuhe haben Zauberkräfte. Sie erlauben uns, über dem Wasser zu schweben, und wir können mit ihrer Hilfe auch über dem Meer frei herumtoben. Ich verlor aber leider meinen Schuh im Meer. Der König der Stürme höchstpersönlich nahm ihn mir weg, um sich zu rächen und mich für meinen Ungehorsam zu strafen. Ich beachtete die Warnungen unserer lieben Königin Agathea nicht, die uns Nixen den Verbleib auf der stürmenden See strengstens verbot. Ach, es gefiel mir ausgezeichnet, in den schäumenden Wellen herumzutoben, die mit mir wild spielten und mich in die Höhe warfen.

Einmal sah ich beim Sturm einen Schiffbrüchigen und beschloss ihm zu helfen. Ich nahm ihn in die Arme und schwamm mit ihm schnell zum grünen Ufer einer nahen Insel. Die stürmische See bedrängte mich wild von allen Seiten. Ich erkannte, dass Schlimmes drohte, dass der König der Stürme mir für meine Tat sehr böse war und mich für meinen Ungehorsam sicher grausam bestrafen würde. Denn der König der Stürme ist der größte Feind der Seenixen. Er hasst uns dafür, dass wir unentwegt seine bösen Spiele durchkreuzen und unglückliche Menschen, die in Seenot geraten sind, vor dem Tod bewahren. Mit letzter Kraft schwamm ich damals mit dem Schiffbrüchigen zum Ufer. Er wurde gerettet, aber mich selbst retten, das konnte ich nicht mehr.

Der Sturm wurde heftiger. Aus den reißenden Wellen ergoss sich ein Schwarm kleiner grüner Wichte, der Sturmlinge, über die der König der Stürme herrscht. Sie fassten sich an den Händen, tanzten wild herum, bis sie mich in ihrem Kreis eingeschlossen hatten. Es war zu spät zu bereuen, unserer Königin, die immer für unsere Sicherheit gesorgt hatte, nicht gefolgt zu haben. Aber da kam schon unter Blitz und Donner der erboste König der Stürme selbst.

"Dafür, dass du es erneut gewagt hast den Menschen zu helfen, werde ich dich grausam bestrafen – allen anderen Seenixen zur Warnung. Du wirst so lange zu einem weißen Schwan, bis ein edler Mensch deinen Schuh findet und ihn dir auf die Zauberinsel bringt. Er wird es aber nicht einfach haben, denn ich werde ihm viele Hürden in den Weg stellen."

Als dies der König der Stürme zu Ende gesprochen hatte, lachte er drohend, riss mir den Schuh vom Fuß und warf ihn weit fort ins schäumende, trübe Wasser. Wild schwenkte er dann sein Zepter und ich wurde augenblicklich in einen weißen Schwan verwandelt.

Als unsere Königin Agathea, die anderen ebenso gern hilft, von meinem Unglück erfuhr, milderte sie die grausame Strafe insoweit, dass ich bei Sonnenuntergang immer meine frühere Gestalt annehme. Aber mit den ersten Strahlen eines neuen Tages werde ich wieder zum weißen Schwan. Seit jener Zeit sind schon viele Jahre vergangen, bisher tauchte hier niemand auf, der etwas über meinen Schuh gewusst hätte, bis du kamst, Daniel“, beendete die Nixe ihre traurige Erzählung.

Während Perlane Daniel ihre Geschichte erzählte, öffnete sich plötzlich das Schlosstor und im Fels erschien eine zum See führende Treppe aus Alabaster. Hinab zum See schritt bedächtig eine schöne Frau mit einer goldenen, mit großen Perlen besetzten Krone auf dem Kopf. Es war die Königin der Seenixen, die den Tanz abbrachen und ihr freudig entgegen eilten.

„Sei gegrüßt, unsere holde Königin, sei gegrüßt unter uns“, riefen die Nixen und streuten um sie herum aus Körbchen weiße und rosa Seerosen, Blüten verschiedenfarbiger Lilien und wunderschöne Orchideen. Die Königin lächelte ihren Gefährtinnen liebevoll zu, grüßte alle, schien aber währenddessen nach etwas zu suchen.

„Wo ist euere Schwester Perlane, warum freut sie sich nicht mit euch?“ fragte die Königin.

„Sie ist traurig, meine Königin, sie sitzt dort am Ufer und weint ihrem verlorenen Schuh nach“, antwortete Nixe Laskea.

„Arme Perlane“, seufzte die Königin betrübt, „solange kein guter Mensch ihren Schuh findet, ist ihr nicht zu helfen.“

„Perlanes Schuh ist bereits aufgetaucht, holde Königin“, rief Daniel, der ihre Worte gehört hatte, und eilte mit Perlane zu ihr.

„Wer bist du, du mutiger Bursche, und wie bist du zur Zauberinsel gelangt? Brachte dich der glückliche Zufall hierher? Denn unser Schloss steigt nur bei Vollmond auf die Meeresoberfläche. Du hattest Glück.“

„Liebe Königin, ich hatte Glück, denn euer Zauberschloss habe ich schon von Kindheit an in meinen Träumen gesehen. Ich bin des Fischers Sohn Daniel. Als ich noch klein war, fand ich einmal nach einem Sturm am Meeresstrand einen kleinen, glitzernden Schuh. Seit dieser Zeit forderten mich unentwegt eine unbekannte innere Stimme und eine geheimnisvolle Sehnsucht auf, den Weg zur Zauberinsel anzutreten. Lange widerstand ich der Versuchung und blieb zu Hause bei den Eltern. Erst kürzlich, als euer Schloss in der Nacht wie eine Feuerfackel brannte, erlag ich der Stimme meiner Sehnsucht. Ohne die Hilfe der Nixe Wella hätte ich aber Eure Insel nie gefunden. Womit hat die Arme gefehlt, dass sie nicht mehr unter euch sein darf?“

„Wella beleidigte vor Zeiten die Königin des Meeres schwer, da sie sich mit dem König der Stürme angefreundet hatte, dem Feind aller Nixen. Die Königin des Meeres nahm ihr zur Strafe ihren rosafarbenen Schleier ab, ohne den Wella nicht unter uns weilen darf, bis ihr die Königin des Meeres vergibt. Die Strafe war gerecht und so kann es lange dauern bis ihr die Königin ihre Tat vergibt. Deswegen ist Wella zur Einsamkeit verurteilt.“

„Der Tag beginnt, Daniel, wir müssen Abschied nehmen. Wenn der Tag anbricht, versinkt der Fels samt Schloss in den Tiefen. Du besteige bitte das Boot und eile nach Hause, den Zauberschuh zu holen. Schau, dass du bis zum nächsten Vollmond wieder zurück bist.“

„Aber wie finde ich in den unendlichen Meeresweiten den Weg zu euch zurück?“ fragte Daniel besorgt.

„Gerne leihe ich dir meinen Schleier“, sagte Perlane, „der wird dich sicher führen. Binde ihn bei der Rückkehr an die Spitze deines Schiffes. Er zeigt dir den Weg hierher.“

„Weißt du, Perlane, was dich erwartet, wenn Daniel mit deinem Schleier und Schuh nicht zur rechten Zeit zurückkehrt? Du bleibst für immer ein weißer Schwan und darfst nie wieder zu uns zurückkehren“, sagte ernst Königin Agathea.

„Ich weiß es, liebe Königin, ich glaube aber, dass mich Daniel nicht enttäuschen wird.“

„Hab keine Angst, Perlane, ich enttäusche dein Vertrauen nicht, ich komme rechtzeitig zurück und bringe dir deinen Schleier und deinen Schuh mit.“

„Wohlan, holder Jüngling“, sagte die Königin, „es ist Zeit zu gehen. Dein Schiffchen wird dich sicher nach Hause bringen. Jetzt stehst du unter meinem Schutz, hüte dich aber auf dem Rückweg vor dem König der Stürme. Sicher wird er dein Tun vereiteln wollen.“

Daniel verbeugte sich tief vor der Königin und den Nixen, faltete sorgfältig Perlanes Schleier und verbarg ihn unter dem Hemd.

Der Morgen kam. Die Nixen pflückten ihm einen Korb voll mit duftendem Obst, gaben ihm ein Fässchen mit frischem Quellwasser dazu und begleiteten ihn zum Ufer. Dann verabschiedeten sich alle freundlich von ihm und die Königin stieß sein Boot vom Ufer ab. In diesem Augenblick schoss sein Schiff vorwärts wie ein Pfeil. Das Rudern war überflüssig. Als er sich umdrehte, sah er das Zauberschloss nicht mehr. Nur über der See schwebte Königin Agathea zum Abschied winkend.

„Komm glücklich zu uns zurück!“ hörte er noch der Königin Stimme.

Der Tag kam. Das Boot stürmte schneller als der Wind vorwärts, und ehe die Sonne ihre Bahn am Himmel vollzogen hatte und sich gen Westen neigte, erblickte Daniel die Konturen des heimatlichen Ufers. Wieder erinnerte er sich seiner Eltern, aber erst jetzt bedachte er, welchen Kummer er ihnen bereitete. Dennoch vertraute er auf ihre Vergebung für sein Verschwinden ohne Abschied, wenn er ihnen alles, was ihm in den letzten drei Tagen zugestoßen war, erzählen würde.
Als er in seine elterliche Hütte kam, beweinten ihn seine Eltern schon. Sie dachten, er hätte in der See seinen Tod gefunden. Nun aber kam große Freude auf. Und als er ihnen erzählte, was er alles erlebt hatte, wollte ihn seine Mutter nicht noch einmal auf solch eine gefährliche Reise fortlassen. Sein Vater aber meinte:

„Versprochen ist versprochen, Mutter. Jetzt ärgert sich vielleicht der König der Stürme über Daniel, weil er den Nixen helfen will, bricht er aber sein Versprechen, enttäuscht er alle Nixen samt ihrer Königin. Daniel ist nicht feige und muss die wichtige Aufgabe erfüllen. Wir wollen hoffen, dass unser Sohn auch von der zweiten Reise glücklich nach Hause zurückkehrt. Er fährt nicht zum eigenen Vergnügen hin, vielmehr um denen in der Not zu helfen, die oft das eigene Leben riskieren, ohne an die Gefahren zu denken, wenn sie auf der See Fischern und Schiffbrüchigen Hilfe leisten.“

Die Mutter wusste, dass der Vater Recht hatte, trotzdem hörte sie nicht auf, sich um Daniel zu sorgen.

Als sich der Jüngling nach der Rückkehr etwas erholt und seine Mutter beruhigt hatte, fingen sie zusammen an, den Schuh der Nixe zu suchen. Aber es war, als wenn ihn die Erde verschluckt hätte. Die Zeit verrann unbarmherzig.

Nur noch zehn Tage blieben bis zum Vollmond, aber vom Schuh fehlte jede Spur. In der nächsten Nacht hatte Daniel einen merkwürdigen Traum. Es erschien ihm die Nixe Perlane und fragte ihn, ob er ihren Schuh schon gefunden habe.

„Nein, ich habe ihn nicht gefunden“, antwortete Daniel traurig.

„Nicht gefunden, weil du nicht sorgfältig gesucht hast“, sagte Perlane und lächelte ihn traurig an.

„Hast du denn dein geheimes Versteck, wo du als Kind deine teuersten Schätze verborgen hast, vergessen? Erinnerst du dich? Die kleine Höhle in den Hügeln hinter euerer Hütte. Das war doch dein verwunschenes Königreich, um das nur du gewusst hast. Und nur du kannst den Weg dorthin wieder finden. Wenn du morgen aufwachst, höre auf meinen Rat und geh zu den Hügeln. Dort findest du das, wonach du hier vergeblich suchst. Beeile dich, lieber Bursche, sonst muss ich für alle Zeiten ein weißer Schwan bleiben.“

Als Daniel am nächsten Tag aufwachte, dachte er, dass das alles nur eine nächtliche Täuschung seiner müden Sinne gewesen war. Als er aber auch am folgenden Tag den Schuh zu Hause nicht fand, brach er auf, ihn dort zu suchen, wohin ihn die Nixe Perlane im Traum geschickt hatte, in das halb vergessene Land seiner Kindheit.

Lange irrte er zwischen den Hügeln hin und her, bis er endlich den Eingang zur kleinen Höhle fand, der über die Jahre fast vollständig mit Himbeer- und Brombeergestrüpp zugewachsen war. Wenn er sich tief bückte, konnte er mit Mühe gerade so hineinschlüpfen. In der Höhle herrschte Zwielicht, aber auch so sah Daniel durch Fetzen von Spinnweben und eine dicke Staubschicht auf einem Felsvorsprung zwischen seinen anderen Kindheitsschätzen etwas aufblitzen. Endlich fand der Jüngling das, wonach er so sehr gesucht hatte. Als er näher kroch und den Staub fortblies, erstrahlte der Schuh im Dämmerlicht der Höhle wie früher. Er dankte im Stillen der Nixe Perlane für den guten Rat, kroch vorsichtig aus seinem Kinderversteck heraus und kehrte erleichtert nach Hause zurück.

Noch am selben Abend bereitete er sich für die Reise vor. Diesmal nahm er reichliche Vorräte an Essen und Trinken mit und band Perlanes Schleier am Schiffsbug fest.
Früh am Morgen verabschiedete er sich von den Eltern und stach in See. Perlanes Schleier war ein guter Lotse, das Meer war ruhig und die Reise ging schnell voran. Daniel spürte keine Müdigkeit; die Aufgabe, die vor ihm lag, trieb ihn vorwärts.

Beinahe schien es, dass er ohne Zwischenfall zur Zauberinsel gelangen sollte, als sich der Himmel unheilvoll verdunkelte und die See aufschäumte. Ein Sturm nährte sich. Es donnerte und der erste Blitz schlitzte das sommerliche Firmament auf. Die Wellen packten unbarmherzig das Schiffchen und schleuderten es wild hin und her. Perlanes Schleier zeigte den rechten Weg nicht mehr an und Daniel war dem tobenden Meer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es wurde so dunkel, dass er seine Nasenspitze nicht mehr sehen konnte. Der Sturm wurde noch stärker und der Jüngling konnte nicht einmal mehr rudern.

Plötzlich brauste eine riesige Welle heran, schleuderte das Schiffchen in die Höhe und ließ es kentern. Die nächste Welle packte den ertrinkenden Daniel und warf ihn an den Strand einer kleinen Insel. Als ein Blitz den Himmel erhellte, sah der Jüngling, dass die ganze Insel ein einziger Fels war und dass er von hier ohne Boot nie mehr fortkommen würde. Er erkannte, dass derjenige, der ihm diese Falle gestellt hatte, sicher nicht sehr weit war.

Was sollte er nur tun?

Da ertönte es hinter ihm hämisch:

„Sei schön gegrüßt, liebes Bürschlein, welch ein hoher Besuch! Ich warte hier schon lange auf dich, um dein Werk zu vereiteln.“

Als sich Daniel nach der Stimme umdrehte, sah er ein kleines, hässliches Männchen mit langem Bart aus Meerschaum. Es war der König der Stürme.

„Was wünschst du und warum hältst du mich auf meiner Reise zur Insel der Nixen auf?“ fragte ihn Daniel.

„Es macht mir immer wieder Freude, wenn ich jemanden ärgern oder ihm schaden kann, und darum lasse ich dich von hier nicht fort, es sei denn, du gibst mir Perlanes Schuh!“ donnerte König der Stürme.

„Den wirst du nie bekommen“, antwortete Daniel.

„Du willst ihn mir nicht geben? Dann bleibst du bis zum nächsten Vollmond mein Gefangener und Perlane bleibt ein weißer Schwan für immer. Danach kannst du ruhig weiterfahren“, sagte der König der Stürme drohend und lachte wild auf.

„Niemand darf sich mir widersetzen. Bedenke, dass dich auch alle Nixen zusammen mit ihrer Königin von hier nicht befreien können. Du kannst es dir aber noch überlegen.“

„Ich habe es schon gesagt, so bleibe ich lieber hier, als meine Freunde zu verraten“, sprach Daniel mit fester Stimme.

Der erboste König der Stürme schwang wild sein Zepter und verschwand in der schäumenden See.

Als dies geschehen war, erschien vor Daniel die Nixe Wella.

„Was machst du hier, Wella?“ rief der Jüngling überrascht.

„Ich komme dir zu Hilfe, Daniel, aber zuerst muss ich dein Boot finden, sonst kommen wir nicht fort von hier.“

Danach verschwand Wella in den tobenden Wellen. Im nächsten Augenblick erblickte der Bursche sie bereits im Blitzlicht im Boot mit dem wehenden Schleier Perlanes am Bug.

„Steige schnell ein, damit wir rechtzeitig zur Zauberinsel gelangen. Fürchte dich nicht und beeile dich, schnell!“

Daniel sprang ins Boot, Wella winkte mit der Hand, aber das Boot blieb wie festgenagelt an der Stelle liegen. Da ertönte hinter ihnen die erboste Stimme des Königs der Stürme:

„Wer hat dir erlaubt, Wella, diesem Menschen zu helfen?“

„Ich mache das, was ich will, König. Niemand hat mir zu verbieten und auch nicht zu befehlen. Ich muss dich nicht um Erlaubnis bitten, wenn ich jemandem helfen will. Es ist meine Entscheidung.“

„Du vergisst, dass auf der stürmischen See ich der einzige Herrscher bin, der König der Stürme.“

„Ich vergaß es nicht, König. Lange war ich deine Freundin und erwies dir viele gute Dienste. Für die Freundschaft mit dir habe ich teuer bezahlt. Die Königin des Meeres wurde zornig auf mich. Deshalb darf ich nun nicht auf die Zauberinsel zu meinen Gefährtinnen. Ich hoffe, dass auch du nicht unsere Freundschaft vergessen hast und so der Weiterfahrt dieses Bootes nicht im Weg stehen wirst.“

„Daniel darf nie mehr auf die Insel gelangen. Es sei, wie ich sagte“, antwortete der König.

„Ist es dein letztes Wort, König? Dann also nimm dein Geschenk zurück“, sagte Wella, löste ihre goldene Schärpe und reichte sie dem König.

„Erinnerst du dich? Du hast versprochen mir jeden Wunsch zu erfüllen, falls ich dir irgendwann dein Geschenk zurückgeben will. Nimm es also und erfülle dein Versprechen. Lass Daniel frei.“

„Hast du gut bedacht, was du von mir verlangst, Wella? Denn der, der mir mein Geschenk zurück gibt, hört auf, mein Freund zu sein.“

„Ich weiß, König, was mich erwartet, trotzdem stehe ich zu meinem Wunsch.“

“Also gut, ich halte mein Versprechen. Du hast für den Jüngling gesprochen, nicht für dich. Für Daniel ist der Weg frei, du aber bleibst mit mir für immer auf dieser Insel.

Aber bedenke, wir sind keine Freunde mehr! Die Königin des Meeres und die Nixen verachten dich für deinen Verrat und ich hasse dich. Du bleibst ganz allein, hast aber noch eine Möglichkeit dich zu retten. Widerrufe deinen törichten Wunsch und wir werden wieder Freunde.“

„Meinen Wunsch nehme ich nicht zurück, König. Ich war für unsere Freundschaft schon genug gestraft. Beeile dich Daniel, fahre allein zur Insel. Grüße alle von mir und richte der Königin Agathea aus, dass ich meine Verfehlung bedauere. Gern würde ich mich bei der Königin des Meeres für meine Unbesonnenheit entschuldigen, aber es ist zu spät“, seufzte Wella.

In diesem Augenblick schäumte die See auf und vor Wella erschien eine schöne, lächelnde, silberhaarige Frau mit strahlender Krone auf dem Kopf. Es war die Königin des Meeres. Sie hielt in den Händen einen rosa Schleier, und als sie ihn Wella überreichte, sagte sie:

„Die Königin des Meeres straft nicht nur gerecht, sie vergibt noch viel lieber denen, die ihre Taten bereuen und die Vergebung verdienen. Du hast mich überzeugt, Wella, dass du ein gutes Herz hast. Ich vergebe dir also. Hilf immer denen, die Hilfe brauchen. Damit zeigst du am trefflichsten, dass du meine Vergebung wirklich verdient hast. Begleite Daniel auf die Zauberinsel und kehre zu deinen Gefährtinnen zurück. Grüße eure Königin von mir.“

„Ich danke dir, liebe Königin, ich werde dich nicht mehr erzürnen“, sagte Wella und kniete vor der Königin nieder, die sie in den rosa Schleier einhüllte.

„Steh auf, Wella, du bist wieder frei“, sagte die Königin und lächelte der Nixe aufmunternd zu.

Der König der Stürme, der finster dieser Begegnung beiwohnte, sagte:

„Wie kommt es, dass mich jeder hasst und dich jeder liebt?“

„Tue Gutes, hilf und vergib anderen so, wie wir es tun. Falls du dies erreichst, werden dich sicher auch alle lieben“, sprach die Königin des Meeres ernst, winkte allen zum Abschied und verschwand.

„Gute Taten! Na so was! Wenn mich die Menschen nicht so lieben wollen, wie ich bin, dann werden sie vor mir wenigstens Angst haben! Ich zeige ihnen, wer der Herr der See ist!“ rief der König der Stürme ärgerlich. Wild drohte er mit seinem Zepter über der See und verschwand in den Tiefen.

Aber da war Daniels Boot schon weit weg und das Meer um sie herum wogte ruhig. Auf den Befehl von Wella flog das Boot ruderlos vorwärts wie ein Vogel. Die Reise ging schnell und noch vor dem Abend kamen sie bis zur Zauberinsel. Als sie aus dem Boot stiegen und Daniel sich umschaute, sah er den bekannten Hain, hinter ihm den kleinen See, aber vom Regenbogenschloss war nichts zu sehen.

„Wo ist das Zauberschloss?“ fragte er Wella enttäuscht, „war denn alle unsere Mühe umsonst?“

„Sei nicht so ungeduldig, Daniel. Warte ab, bis am Himmel der erste Stern aufgeht, dann erblickst du ein wunderschönes Schauspiel. Mache inzwischen das Boot am Ufer fest und ruhe dich aus. Bald komme ich dich holen.“

Daniel tat wie Wella gesagt hatte. Er setzte sich am Ufer der Insel ins kühlende weiche Gras und beobachtete sehnsüchtig den sich verdunkelnden Himmel. Kaum, dass die Sonne untergegangen war und der erste Stern über seinem Kopf aufging, tauchte langsam aus dem See das Zauberschloss auf: zuerst schlanke Türme, dann Dächer und Zinnen und zum Schluss auch weiße Wände mit hohen Fenstern. Endlich erhob sich das ganze Schloss über dem See. Im Licht des Vollmonds tauchte der regenbogenfarbene Schein des Schlosses die gesamte Umgebung in einen märchenhaften Glanz. Da erschien Wella wieder vor dem Jüngling und fragte:

„Und, bist du zufrieden Daniel? So eine Schönheit, nicht wahr?“

„Wella, es ist wunderschön. Ich weiß, dass ich töricht bin, aber ich wünsche mir so sehr zu sehen, wie es im Schlossinnern ausschaut. Das muss erst eine Pracht sein.“

„So ist es, aber wie du weißt, darf kein Mensch dort eintreten. Darum ist das Schloss durch den verzauberten See geschützt.“

Während sie so miteinander sprachen, fingen ringsum Fontänen zu rauschen an, das Schlosstor öffnete sich, aus dem Schloss ertönte schöne, ruhige Musik und aus dem Tor schritten die Seenixen langsam die Stufen in den See herab. Ihnen entgegen schwamm ein weißer Schwan, die verzauberte Perlane, die ohne ihren Schleier auch nachts nicht ihre frühere Gestalt einnehmen konnte. Die Nixen sprachen freundlich mit ihr, trösteten sie und streichelten ihre weißen Schwingen.

Als letzte kam aus dem Schloss Königin Agathea. Sie schritt langsam die alabasternen Stufen zum See herab, lächelte aber nicht so fröhlich wie früher. In dem schönen Antlitz zeichneten sich Besorgnis und Trauer ab. Sie fragte alle Nixen, ob sie nicht irgendwo auf der See Daniels Boot gesehen hätten. Keine von ihnen aber hatte Daniel seit dem letzten Vollmond erblickt. Der Königin Besorgnis wuchs noch mehr. Sicher hatte der König der Stürme dem mutigen Jüngling die Reise zur Zauberinsel vereitelt.

In diesem Augenblick aber ertönten in der Nähe freundliche Stimmen, Sträucher teilten sich, und aus ihnen heraus traten Wella und Daniel, der in den Händen Perlanes Schleier und einen kleinen Schuh trug.

„Ihr müsst nichts mehr befürchten, liebe Königin. Ich komme, um Perlane ihre verlorene Freiheit zurückzugeben. Aber ohne die Hilfe der Königin des Meeres und der Nixe Wella wäre ich nicht rechtzeitig zu Euch gelangt. Dankt darum vor allem ihnen“, sprach Daniel bescheiden.

Dann erzählte er alles, was sich auf See zugetragen hatte. Die Nixen umringten sie freudig und begrüßten Wella. Daniel reichte Königin Agathea Perlanes Schleier und die verhüllte damit den weißen Schwan. Im nächsten Augenblick stand die anmutige Nixe Perlane vor ihm, fast zum Verwechseln ihren Gefährtinnen gleich. Daniel gab ihr den zweiten Zauberschuh zurück.

„Zieh ihn schnell an, Perlane, er soll dich vor dem König der Stürme schützen. Das nächste Mal sei aber vorsichtiger“, sagte er ernst.

„Ich danke dir, Daniel, für alles, was du für mich auf sich genommen hast. Was verlangst du als Belohnung? Sage es mir, ich erfülle gern jeden deiner Wünsche.“

„Liebe Perlane, es erfüllte sich meine große Sehnsucht, mein Kindheitstraum. Endlich konnte ich euer Zauberschloss erblicken. Mehr verlange ich nicht. Gern habe ich dir geholfen und nun kehre ich wieder gern zu meinen Eltern zurück. Ich bin zufrieden.“

„Wirklich, verlangst du nichts mehr, Daniel?“

„Nein, ich freue mich, euch wieder glücklich vereint zu sehen. Gebe Gott, dass euch niemand mehr auseinander bringt.“

Ihrem Gespräch lauschte Königin Agathea aufmerksam. Als der Jüngling zu Ende geredet hatte, sprach sie ihn freundlich an:

„Ich hörte, dass du für deine Hilfe nichts verlangst, Daniel. Dein Edelmut gefällt mir. Du hast ein gutes Herz, bist ein mutiger und tapferer Bursche. Nun, da du keinen Lohn willst, obwohl er dir rechtmäßig zusteht, belohne ich dich selbst. Du hast dein Leben riskiert, um eine von uns zu retten, aber auch für die Erfüllung deines ewigen Traumes. Vergiss im Leben nie deine Träume, lieber Daniel. Bedenke, dass der Ursprung aller großen Taten der Menschen Sehnsucht und Träume waren. Auch deine Träume werden dich immer höher zu den Sternen führen. Ich weiß aber, dass einer deiner Träume unerfüllt blieb und nur die Bescheidenheit es dir verwehrt, ihn noch einmal auszusprechen. Heute soll dir dieser Wunsch erfüllt werden.“

Nach diesen Worten drehte sich Agathea zum Schloss und winkte mit der Hand. Im selben Augenblick schoben sich wieder weiße Alabasterstufen hinab und den See überspannte eine leichte Brücke. Auf Daniels Gesicht erstrahlte ein glückliches, fast kindliches Lächeln.

„So komm, Daniel, die Zeit wartet nicht“, sagte die Königin und nahm den verzauberten Jüngling bei der Hand, sie überquerten die Brücke und stiegen die Stufen zum Schloss hoch. Alle Nixen folgten ihnen. Durch das offene Tor gelangten sie zum ersten Schlosshof, wo in Brunnen in Form von großen, mit wunderschönen Blumen bekränzten Muscheln herrliche Wasserfontänen sprudelten. Glitzernde Tropfen fielen auf die Wasseroberfläche und erzeugten strahlende Girlanden in Regenbogenfarben.

Vom Schlosshof traten sie in einen langen Flur, der zu den Schlossgemächern führte. Da war eines schöner als das andere, farbig abgestimmt in hellen Pastelltönen. Alle waren kunstvoll mit Plättchen aus Perlmutt und verschieden farbigen Muscheln von sonderbaren Formen ausgelegt, die an den Decken, Wänden und Fußböden bunte Blumenmuster erzeugten. Auch die ganze Ausstattung der Schlossgemächer – Gefäße, Gläser und Schalen – war aus den Gaben der See erschaffen. Kristallleuchter waren verziert mit Schnüren aus bunten Korallen und milchig weißen Perlen. In der Mitte jedes Saales war eine große Fontäne, in den Wänden hohe schmale Fenster mit Blick aufs Meer und mit reich gefalteten, durchsichtigen Vorhängen, die mit winzigen Fischschuppen verziert waren, die im Schein der Kerzen wie Edelsteine glitzerten.

Daniel durchschritt das Schloss wie im Rausch, er wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Zeitweilig zweifelte er, ob dies alles nicht nur ein Traum war. Daran, dass es die Wirklichkeit war, erinnerte ihn erst die Frage der Königin:

„Nun, Daniel, wie gefällt es dir bei uns?“

„Liebe Königin, es gibt hier überall so viel Schönheit, wie ich woanders mein ganzes Leben lang nicht sah und nicht sehen werde. Ich werde die Zauberinsel niemals vergessen. Das Bild ihres Königreichs bleibt für immer in meinem Herzen.“

Agathea lächelte, suchte am Tisch eine große Muschel aus und blies sie leicht an. Als sie sie Daniel reichte, sagte sie:

„Dieses Bild bleibt nicht nur in deinem Herzen, du kannst damit auch deine Nächsten erfreuen.“

Daniel schaute in die Muschel und wollte seinen Augen nicht trauen. In die Muschel aus Perlmutt hatte der Königin Atem das Bild des Zauberschlosses gezaubert, das mit allen Farben des Regenbogens in die Nacht strahlte samt den Fontänen.

„Dies, Daniel, hast du von uns zur Erinnerung. Bewahre das Geschenk gut, denn unser Schloss wirst du im Meer nicht mehr erblicken.“

Dann trat die Nixe Perlane an den Jüngling. In den Händen hielt sie ein schönes Fischernetz.

„Und hier hast du ein kleines Geschenk von mir Daniel, damit du lange an mich denkst. Ich hoffe, dass es dich auch erfreut. Ich wünsche dir, dass dieses Netz immer voll mit Fischen sein wird.“

„Es ist sehr schön, Perlane, ich danke dir von ganzem Herzen, für mich und für meine Eltern.“

Als letzte sprach die Nixe Wella den Burschen an:

„Ich bin dir dankbar für meine Errettung, Daniel. Ich habe aber nichts, was ich dir geben könnte, als dieses Sträußchen aus Wasserblumen. Bring es deiner Mutter mit nach Hause. Vielleicht wird sie dieses kleine aufrichtige Geschenk erfreuen.“

Als Wella zu Ende sprach, ertönte die Stimme der Glocke. Die Musik verstummte langsam, die Flämmchen in den Leuchtern erloschen und die Nixen fingen an, sich in ihre Schleier zu hüllen. Die Königin sagte:

„Folge mir schnell, Daniel, der Tag bricht an und mit ihm kommt auch unser Abschied. Wenn es hell wird, versinkt unser Schloss wieder auf den Grund des Sees.“

Als sie mit der Königin die Stufen hinab schritten, verschwanden die Stufen eine nach der anderen, und als sie die Brücke überquert hatten, verschwand auch diese. Das Wasser des Sees verschluckte das Schloss mehr und mehr, und nach einer Weile verschwand es vor Daniels Augen ganz.

Am Seestrand verabschiedeten sich alle Nixen herzlich von ihm. Sie legten ihm schnell Reisevorräte ins Boot, und ehe Daniel das Schiff freigemacht hatte, blieb er mit der Königin auf der Insel allein. Es war höchste Zeit aufzubrechen, denn die Wellen begannen auch die Insel zu fluten. Zum Abschied sagte Agathea zu ihm:

„Lieber Daniel, du musst nichts mehr fürchten. In Kürze kommst du zu deinen Eltern, die dich schon sehnsüchtig erwarten. Richte ihnen auch meinen Gruß aus, sie haben einen guten Sohn erzogen. Sei immer so edelmütig wie bisher und das Glück bleibt dir treu. Und nun beeile dich. Gute Fahrt!“

„Ich danke Euch für alles, Königin, ich werde mich nach Euch allen sehnen“, antwortete Daniel und stieg in das Boot.

Die Königin winkte ihm zum Abschied, aber da entfernte sich das Boot schon vom Ufer. Und als sich der Bursche zum letzten Mal umdrehte, war die Zauberinsel im Meer verschwunden.

Silbrig glitzerte in den morgendlichen Sonnenstrahlen nur die unendliche Wasserwüste.

Das Schiffchen flog wie ein Vogel auf der ruhigen Wasserfläche gen Heimat. Gegen Abend sah Daniel das heimatliche Festland. Er freute sich sehr, seinen Vater und seine Mutter wiederzusehen.

Als er in die vertraute Stube eintrat, freuten sich alle, dass sie wieder beisammen waren. Die Mutter umso mehr, als sie sich um den Sohn keine Sorgen mehr machen musste. Daniel erzählte ihnen alles, und dann erinnerte er sich der Geschenke, die er von der Zauberinsel mitgebracht hatte. In der verzauberten Muschel prangte wie lebendig das Bild des Zauberschlosses in aller Herrlichkeit und Großartigkeit. Als die geschundenen Hände seiner Mutter die Wasserblumen berührten, die Daniel für sie von Wella bekam, verwandelten sich die Blüten in Goldtaler. Das Netz von Perlane war, immer wenn Daniel zur See hinausfuhr, gefüllt mit Fisch.

Die Geschenke seiner Freundinnen vertrieben für immer die Not aus der Fischerhütte und Daniels Familie gedachte dankbar der guten Seenixen. Auch wenn die Geschenke Daniel mit der Zeit Wohlstand brachten, wurde er nie hochmütig. Er blieb bescheiden und half anderen Fischern immer bereitwillig. Mit Liebe kümmerte er sich um seine Eltern und später, als er heiratete und Kinder kamen, sorgte er für seine ganze Familie ebenso liebevoll.

Zeit seines Lebens gedachte er der Worte der Königin der Nixen und der Königin des Meeres:

„Mache andere glücklich und du wirst es selber.“

Und so geschah es auch. Seinen Kindern und seinen Enkelkindern erzählte er oft die Geschichte vom Königreich der Nixen und von einer erfüllten menschlichen Sehnsucht, aber das Zauberschloss oder eine der schönen Seenixen sah er nie wieder.

„Eine wahre Liebe kann man nie ganz wegschenken. Je mehr du gibst, desto mehr bleibt dir übrig.“
(Antoine de Saint-Exupéry)

Von Paul, Blümchen und dem Garten des Lebens

Hinter den sieben Bergen und den sieben Wäldern herrschte in einem Königreich der König Heinrich. Er hatte einen einzigen Sohn, der Paul hieß. Es war ein geschickter und kluger Junge. Er wurde von den hervorragendsten Lehrern und den berühmtesten königlichen Beratern erzogen. Und so beherrschte er mit seinen achtzehn Jahren fast alles, was ein künftiger König können musste. Da er aber ein kluger Bursche war, wusste er, dass ihm noch das Wichtigste fehlte, nämlich das Volk kennen zu lernen, das er einmal führen sollte.

Eines Tages ging er daher zum König und sagte zu ihm:

„Lieber Vater, ich möchte mit meinen eigenen Augen sehen, wie unser Volk lebt und auch alle Schönheiten des Vaterlandes erblicken, von denen mir meine guten Lehrer erzählt haben. Wie sonst könnte ich gut und gerecht herrschen? Ich möchte ohne mich erkennen zu geben durch unser Land reisen, um zu erfahren, was das Volk wirklich denkt, welche Wünsche und welche Sehnsüchte es in den Herzen hegt und ob die Menschen bei uns zufrieden sind. Ich bitte dich, lass mich die Welt kennen lernen und du wirst sehen, dass meine Reise uns beiden dienlich sein wird.“

Den König grämte seines Sohnes Bitte, da er den braven Sohn gern in der Nähe hatte, er erkannte aber an, dass Paul Recht hatte. Denn auch er selbst war damals in die Welt hinaus gefahren. Aber seit jener Zeit waren schon viele Jahre verflossen und seit seine geliebte Frau gestorben war, fühlte sich der König sehr einsam. Umso mehr hing er an seinem Sohn, der ihr so ähnlich sah.

Schließlich gab der König schweren Herzens nach und willigte in den Wunsch seines Sohnes ein. Denn auch er wünschte sich sehr, dass Paul einmal ein guter und gerechter König würde, den das Volk liebte.

Und so bereitete sich der Prinz auf die Reise vor. Im Stall suchte er sich das Pferd Bräunling aus, das er am liebsten hatte und in seinen Tornister packte er Essensvorräte für mehrere Tage ein. Er verabschiedete sich vom Vater und brach am frühen Morgen bei Sonnenaufgang zu seiner ersten Reise ohne Begleitung auf. Mit Getöse schlossen sich hinter ihm die Tore. Der Prinz winkte zum letzten Mal seinem lieben Vater zu und verschwand im kühlen Wald.

Wie schön war es dort! Die Vöglein zwitscherten fröhlich im Geäst, die pralle Sonne auf den Lichtungen ging in einen angenehmen Schatten unter den Bäumen über. Den Wald wechselten Felder mit reifem Getreide ab, das seine vollen Ähren zur Erde neigte und Paul zum Gruße rauschte. Weiches Wiesengras war ihm ein weiches Lager zum Ausruhen und über ihm flogen hohe weiße Wolken. Dies war eine andere Welt als zu Hause im Schloss. Es gab hier die unendliche Freiheit des weiten Raumes, die er bisher nicht kennen gelernt hatte. Der Junge Prinz freute sich, wie reich und schön sein Vaterland war.

Alles, was er ringsum sah, war für Paul neu, und alles erfreute ihn. Saubere weiße Häuser mit roten Dächern, malerische Dorfkirchen mit Glockentürmchen und das Landvolk, das ohne ihn zu kennen dennoch herzlich und freundlich zu ihm war. Die Welt war wie ein herrliches Mosaik, das in allen Farben schillerte. Der berauschte Paul ahnte gar nicht, dass es Orte gab, wo es auch anders sein könnte.

Als er schon einige Wochen durchs Land gereist war, entschied er sich, auch eine nahe gelegene Stadt zu besuchen. Er hoffte sie bis zum Abend erreichen zu können, um nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Der Weg führte durch einen tiefen Wald, der immer öder und dunkler wurde. Nirgends wuchs eine Blume, sang ein Vogel, oder war ein anderes Lebenszeichen. Paul war ein tapferer Jüngling, der nie Angst hatte. Trotzdem spürte er das Gefühl einer unbekannten Beklemmung, die sein Herz befiel. Er wünschte sich sehr, hinaus aus dem dunklen Wald zu sein und wieder die helle Sonne über dem Kopf zu sehen. Schnell wurde es dunkel, die Sonne ging hinter den Bergspitzen unter, aber der Wald nahm kein Ende. Der Abend kam mit einer alles verhüllenden Dunkelheit. Paul stieg vom Pferd ab, nahm es am Zügel und stolperte über Baumwurzeln und spitze Steine weiter. Kein Mond beschien ihren Weg und auch keine Sterne, es war finstere Nacht.

Paul war drauf und dran im Wald zu übernachten und erst am Morgen weiter zu reiten, als er vor sich ein kleines Lichtlein flackern sah:

„Wo Licht ist, sind auch Menschen“, sagte er sich und begab sich mit seinem Pferd in Richtung des Lichts. Nach einer Weile kam er auf eine Lichtung, in deren Mitte eine Hütte stand. Ihr Fenster strahlte wie ein Stern freundlich in die finstere Nacht.

Paul klopfte an die Tür und nach einer Weile öffnete ein Greis, dem sein weißer Bart bis zur Hüfte reichte. In der Hand hielt er ein hölzernes Zepter mit vielen kleinen Kerben. Der Knabe bat ihn um ein Nachtlager für sich und sein Pferdchen. Der Greis nickte zustimmend und führte den Jüngling in seine bequeme Stube, wo im Kamin ein gemütliches Feuer loderte. Pauls Pferd führte er dann in den Stall, um es zu füttern und zu tränken. Als er in die Stube zurückkam, sah er, dass der Jüngling durch die anstrengende Reise sehr müde war und brachte ihm zur Stärkung eine große Tasse voll Milch und eine Schnitte Brot. Paul war den Tag über sehr hungrig geworden und nahm das Abendbrot gern an.

Der Greis beobachtete den Burschen lächelnd und als sich Paul satt gegessen hatte, fragte er ihn:

„So – Paul, wie gefällt es dir denn bei mir?“

„Du kennst mich, Väterchen?“ wunderte sich Paul, „wir sehen uns doch Heute zum ersten Mal.“

„Nun ja, wie sollte ich dich nicht kennen, lieber Junge. Ich kenne nicht nur dich, sondern auch deinen Vater, den König Heinrich, und ich kannte auch deine Mutter, Königin Marie, gut.“

„Wer bist du, Väterchen?“ fragte der verwunderte Jüngling den Greis.

„Ich bin das Leben. Mein Geheimnis kann ich dir nicht verraten. Und wenn ich es täte, du würdest es nicht begreifen, wie es auch die nicht begriffen haben, die mich vor dir besuchten.“

„Wo bin ich?“ fragte Paul unsicher.

„Du bist, Junge, mein Gast. Ich bin überall und nirgends zu Hause, wer mich sucht, findet mich nie, ich gehöre allen und niemanden, ich komme von selbst, nicht erwartet, nicht gerufen.“

Paul wollte den geheimnisvollen Greis weiter befragen, aber seine Fragen unterbrach ein wunderschöner Schein, der auf einmal die Stube erfüllte. Wie wenn die Sonne mit ihren Strahlen in die kleine Hütte hineinflöge. Als sich Paul von seiner Überraschung erholte, war vor ihm ein wunderschönes Mädchen erschienen. Mit ihrer Anmut konnte sich keine von den jungen Frauen, die er am Königshof gesehen hatte, messen. Paul schaute die schöne Erscheinung an wie verzaubert. Er hatte Angst, sich zu bewegen um das strahlende Bild nicht mit einer Bewegung zu vertreiben. Auf den ersten Blick verliebte er sich in die junge Frau.

„Sei gegrüßt, Paul“, sagte das Mädchen. Sie stand vor ihm und lächelte ihn lieblich an. Als sie seine Verlegenheit sah, reichte sie ihm zur Begrüßung ihr zierliches Händchen, weiß wie Alabaster.

„Wer bist du, schöne Maid?“ fragte sie der Prinz.

„Ich bin das Glück, Paul, aber mein Vater Leben nennt mich Blümchen, weil ich alle Blumen liebe und ihm bei der Pflege seines Gartens helfe.“

Paul fühlte, dass er diese Frau und keine andere das ganze Leben lang innig lieben und ohne sie nicht weiter leben können würde. Auch wenn er bis zur Ende der Welt reiste, nichts würde sich an der Stärke seines Gefühls ändern, das in ihm für sie entflammte.

„Blümchen, werde bitte meine Frau und komme mit mir ins Schloss. Alle werden dich lieben. Zusammen werden wir unser schönes Land regieren, damit überall Gärten des Lebens aufleben. Niemals wird dir bei uns Bange sein, du wirst sehen.“

„Ich kann nicht, Paul. Ich muss auf dieser Welt andere, wichtigere Aufgaben erfüllen. Ich kann meinen Vater nicht verlassen. Alles würde allein an ihm hängen bleiben. Kehre nach Hause zurück, lieber Prinz und mich vergiss.“

„Ich gehe nicht ohne dich weg von hier. Wenn du deinen Vater nicht verlassen kannst, nimm ihn mit ins Schloss. Bei den Aufgaben, die du zu erfüllen hast, werde ich dir gern behilflich sein, aber dich, meine teure Seele, kaum dass ich dich gefunden habe, darf ich nicht verlieren.“

„Du kannst mir nicht helfen, lieber Paul, meine Aufgaben sind zu schwierig. Kein Sterblicher kann sie je erfüllen.“

„Blümchen, sage nur, was ich tun muss“, drängte Paul, „deinetwegen stelle ich mich gern jeder Prüfung und keine Aufgabe wird für mich zu schwer sein.“

„Nun gut, wenn du nicht anders willst, Paul, wisse, dass meine Sendung im Abwischen der Tränen des Leids von den Wangen der Unglücklichen und im Spenden von Funken der Hoffnung, des Glücks und eines neuen Lebens in die Seelen der Traurigen und Gebrochenen besteht.“

Darauf sagte Paul:

„Liebes Blümchen, auch mein größter Wunsch ist es, das Volk dieses Landes glücklich zu machen. Sage mir, was soll ich tun, wie kann ich dir in deiner Arbeit helfen?“

Nach diesen Worten wandte sich Blümchen an ihren Vater:

„Darf ich, Vater?“

„Nun, Paul, wenn meine Tochter für dich bittet, würde ich ihr nicht gern im Weg stehen und ihr gutes Herz verletzen. Versuche also sie zu gewinnen. Aber deine Aufgabe wird nicht so leicht sein, wie es dir auf den ersten Blick erscheinen mag. Höre gut zu, was ich dir zu sagen habe. Ich habe mehrere Kinder. Außer Blümchen, die unter die Menschen das Glück verteilt, habe ich noch die Töchter Liebe und Eintracht, die aber auf der Welt eine andere Bestimmung haben. Ich habe aber auch die Töchter Neid, Hass, Bosheit und den Sohn Leid. Diese meine Kinder zerstören unentwegt das Werk meiner jüngsten und liebsten Tochter. Blümchen muss mit ihnen um das Menschenglück kämpfen. Die Liebe und die Eintracht helfen ihr zwar in diesem Kampf, haben aber selbst auf der Welt Arbeit noch und noch. Blümchens Fürsorge wird überall benötigt, auch in meinem Garten. Schwerlich könnte sie nur an einer Stelle verbleiben. Siehst du es ein, Paul? Denn wenn du einem Menschen hilfst, fünf andere werden ihn beneiden.“

„Erlaube mir Väterchen Leben es trotzdem wenigstens zu versuchen mein Volk glücklich und zufrieden zu machen, mag die Aufgabe noch so schwer sein.“ sagte der Königssohn.

„Gut Paul, wenn du es nicht anders willst, sind wir uns einig. Wenn dein Reich gänzlich glücklich ist, darfst du Blümchen zu dir ins Schloss nehmen, sie soll deine Frau werden. Bist du einverstanden?“

Paul schaute in Blümchens himmelblaue Augen und sagte:

„Für dich, Blümchen, stelle ich mich gern allen Hindernissen und Prüfungen, ohne Zögern würde ich auch mein Leben opfern nur damit du glücklich wirst.“

„Es geschehe also, wie du es wünschst, Paul. Die Prüfung beginnt!“ sagte der Greis und schwang sein Zepter. In diesem Augenblick verschluckte die Dunkelheit Paul und als er wieder zu sich kam, stand er zusammen mit seinem Pferd auf einer Wiese. Am Himmel stand der Mond und sein blasser Schein erhellte die Umgebung. Vom Wald, von der Lichtung und von der Hütte war nichts zu sehen. Schon legte sich Paul zum Schlaf auf die Wiese, als er die geliebte Stimme seines Liebchens hörte:

„Paul, ich bin es, Blümchen. Mich sehnte nach dir und ich will dir helfen, denn ohne mich könntest du nie siegen. Auch ich liebe dich von ganzem Herzen und möchte deine Frau werden. Nimm diese drei Geschenke: Den Zauberbeutel, die Rute und die Trillerpfeife. Jedes der Geschenke wird dir auf deiner Reise helfen. Der Beutel wird immer voll mit Gold und Silber sein, die Rute holt jeden, auch wenn er im Sterbebett läge, ins Leben zurück, und auf der Pfeife bläst du, wenn du nicht mehr ein noch aus weißt. Vergiss aber nicht, dass du die Trillerpfeife nur dreimal benutzen darfst. Auf dein Pfeifen komme ich und helfe dir.“

Paul zog Blümchen innig an sich:

„Ich danke dir, meine Liebe, du wirst sehen, dass ich dich nicht enttäusche. Ich beweise deinem Vater, dass ich dich wirklich verdiene.“

„Ich glaube dir, Paul“, sagte Blümchen. Pflückte zwei Kräuter und gab sie dem Pferdchen.

„Wenn du einmal sehr in Eile sein solltest, dein Pferdchen wird dir helfen“, sagte sie noch und streichelte Bräunling die Mähne. Der wandte zu ihr seinen Kopf, als wenn er sie verstanden hätte und wieherte fröhlich. Dann reichte Blümchen Paul die Hand zum Abschied und als er sich umsah, war sie wie eine leichte Brise verschwunden. Vergeblich rief Paul nach ihr, sie erschien nicht mehr.

Sobald am Morgen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen das Land weckten, sattelte Paul das treue Pferd und begab sich auf die Weiterreise. Er ritt und ritt, bis er in ein Dorf kam, wo ein großes Feuer gewütet und die meisten Häuser vernichtet hatte. Ringsum hörte man die Dorfbewohner nur klagen und jammern. Als Paul das Unglück sah, das sie getroffen hatte, verteilte er gerecht unter allen Goldstücke aus dem Zauberbeutel.

In Kürze wuchsen an der Stelle der Brandstätte neue Häuser und das Klagen verwandelte sich in Freude. Die Dorfbewohner ahnten nicht, dass ihr Retter der künftige König war.

Dieser reiste inzwischen übers Land und half überall dort, wo es nötig war. Einmal führte ihn der Weg durch einen Wald, bis er zu einer Blockhütte kam, in der ein Holzfäller mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Aus der Hütte hörte man Weinen und Klagen. Der Prinz sprang vom Pferd ab und trat hinein, um zu erfahren, was passiert war. Auf der Pritsche sah er den sterbenden Mann, den Ernährer einer vielköpfigen Familie, der durch einen fallenden Baum tödlich verletzt worden war. Um sein Bett standen das jammernde Weib und sieben weinende Kinder. Es schien, dass kein Mensch dem unglücklichen Mann mehr helfen konnte. Da trat Paul an sein Bett und berührte den Holzfäller mit der Rute. Die Rute heilte zwar die Wunden, aber ins Leben zurückrufen konnte sie ihn nicht mehr. Es war zu spät. Da blies der Prinz zum ersten Mal auf der Pfeife. Ein Wunder geschah. Der Mann öffnete die Augen, seine Wunden verschwanden, als wenn es sie nie gegeben hätte. Er ward gesund. Die Kinder sprangen erfreut zu Paul und dankten ihm für die Errettung ihres Vaters. Paul gab ihnen noch so viel Geld, dass die Familie nie mehr in Not war. Dann verabschiedete er sich von ihnen und ritt weiter.

So reiste er ein paar Jahre kreuz und quer durch sein Land und hielt überall dort an, wo seine Hilfe nötig war – bei den Armen und auch bei den wohlhabenderen, in den Städten, in den Dörfern und auch bei den Einsiedlerhöfen. Die Rute und der Beutel mit Geld haben ihm überall gut geholfen.

Da kam er einmal in eine Armenhütte, wo zwei kleine Waisenkinder die gestorbene Mutter beklagten. Hier konnten der Beutel und die Rute nicht den Kummer und den unermesslichen Schmerz aus ihren Herzen vertreiben. Die Kinder blieben in der Welt allein, gänzlich verlassen, ohne Liebe, ohne Hilfe und ohne Schutz. Da taten die unglücklichen Kinder Paul leid und er blies auf der silbernen Pfeife zum zweiten Mal. Die Frau im Bett erwachte zu neuem Leben. In diesem Augenblick aber hörte Paul Blümchens Stimme:

„Bedenke Paul, nur noch einmal darfst du mich um Hilfe bitten und es warten auf dich noch so viele Aufgaben.“

Des Prinzen Herz aber wärmte das Bild zweier sich glückselig an die Mutter schmiegender Kinder über alles.

Und so wanderte er durch die Welt, weiter und weiter, und an eine Rückkehr nach Hause dachte er bisher nicht. In dieser Zeit erlebte er viel Gutes und Schlechtes. Er begriff jetzt die Richtigkeit der Worte von Väterchen Leben. Er selbst überzeugte sich oft davon, wie wenig Liebe unter den Menschen war und wie viel Bosheit, Neid und Trug auf der Welt herrschte.

Und es geschah, dass er einmal in eine große Stadt kam, die ganz in schwarze Trauertücher gehüllt war. Als er im Wirtshaus nachfragte, warum die Stadt in tiefer Trauer sei, berichteten sie ihm, dass König Heinrich gestorben war, sein Vater. Paul blieb stehen wie vom Blitz getroffen. Als er nach einer Weile zu sich kam und die ganze bedrückende Wahrheit begriff, ging er hinaus zu seinem Pferd und weinte bitterlich. Über die ganze Zeit hatte er sich um das Glück und die Zufriedenheit anderer gesorgt, jedermann so gut er konnte geholfen und nun wusste er auf einmal nicht mehr, was zu tun war. Er beschloss sofort nach Hause aufzubrechen um seinen Vater, bevor man ihn zur letzten Ruhe bettete, noch einmal zu sehen. Im ersten Moment vergaß er ganz, dass er Blümchen um Hilfe bitten könnte, aber das treue Pferd streckte ihm seinen Kopf entgegen und flüsterte ihm plötzlich mit Menschenstimme ins Ohr:

„Mein Herr, es ist noch nicht alles verloren. Besteige mich schnell und halte dich gut. Ich werde einen Weg nehmen, den du noch nicht kennst.“

Sobald Paul im Sattel saß, entschwebte Bräunling wie ein Vogel in die Wolken. Sie schwebten miteinander über der Erde und unter ihnen flogen Wälder, Wiesen, Felder, Fischteiche, Hügel, Städte und Dörfer vorbei, bis das Pferdchen endlich bei einem Wald zurück auf die Erde sank.

„Hinter diesem Wald ist dein Zuhause“, sprach zum letzten Mal mit Menschenstimme das Pferdchen Bräunling.

Und wirklich, sobald sie den Wald durchquert hatten, sah Paul auf dem Hügel das väterliche Schloss. Auf allen Türmen wehten schwarze Trauerflaggen. Als die Schlosswache und die Bediensteten des Königs Sohn kommen sahen, kamen sie ihm weinend entgegen und begleiteten ihn in die Schlosskapelle. Dort lag auf einem hohen Katafalk vor dem Altar im bleichen Schein vieler Kerzen aufgebahrt Pauls Vater. Der Jüngling kniete zu seinem Haupt nieder und liebkoste in tiefer Trauer das teure Antlitz des Vaters und streichelte sein silbernes Haar. In diesem Moment erinnerte er sich an Blümchen und beschloss, zum dritten Mal auf der silbernen Pfeife zu blasen. Sogleich erschien ihm Blümchen und er faltete bittend seine Hände:

„Blümchen, gib meinem Vater das Leben zurück.“

Die Glücksfee lächelte Paul lieblich an, strich mit ihrem Händchen, weiß wie Alabaster über des Königs Haupt und verschwand.

König Heinrich erwachte und wollte nicht glauben, dass er gestorben war. Es schien ihm nur, dass er für eine lange Zeit eingeschlafen war, um sich zu entspannen. Er freute sich aber sehr, als er seinen Sohn gesund und munter vor sich sah. Paul erzählte ihm alles, was er auf seiner Wanderschaft erlebt hatte. Der alte König lobte seinen Sohn für seine Opferbereitschaft, denn er konnte mit Recht auf ihn stolz sein. Er stimmte darum gern zu, ihn künftig auf seinen Reisen durch das Königreich zu begleiten.

Als sie dann später in einer Kutsche durch das Land fuhren, freuten sich beide sehr, ihr Volk glücklich und zufrieden zu sehen. Alle Untertanen erzählten ihnen ganze Legenden vom jungen, opferbereiten Retter und viele erkannten erst jetzt, dass es der Sohn des Königs selbst gewesen war, ihr künftiger Herrscher.

Als Vater und Sohn in einen Wald kamen, sah Paul auf einem Baumstumpf ein altes Weiblein wie ein Hauch sitzen, durch das Alter tief gebeugt. Er begrüßte es freundlich und es sagte:

„Junge, ich warte schon lange auf dich, meine Tochter hat dich zum Bräutigam erwählt.“

Paul antwortete ihr erheitert:

„Meine Braut habe ich schon lange, aber gut, Großmütterchen, wenn du nicht anders willst bringe mich zu deiner Tochter, wenn sie so sehr meine Frau werden will.“

König Heinrich und Paul stiegen aus der Kutsche und schritten hinter dem Weiblein her, bis sie zu einer kleinen Hütte kamen. Als sie hinein traten und am Tisch Platz nahmen, schien es Paul, als ob er in dieser Stube schon einmal gewesen wäre. Er stand auf und ging zum alten Weiblein in die Diele, um es zu befragen. Als ihm die Frau ihr Gesicht zuwandte, trat er überrascht zurück. Vor ihm stand kein altes Weiblein, sondern sein geliebtes, lächelndes und schönes Blümchen.

„Teures Blümchen“, rief Paul und umarmte inbrünstig das anmutige Mädchen, „ich ahnte, dass du mich prüfst.“

Sich an den Händen haltend, traten sie in Stube ein. König Heinrich freute sich sehr, als er Pauls schöne Braut erblickte, und segnete sie beide gern. Dann bereiteten sie sich auf die Reise ins Schloss vor.

Da erschollen im Flur schwere Schritte. In die Stube trat der Greis Leben, und als er die beiden Gäste begrüßt hatte, sagte er:

„Du hast dich gut gehalten, Paul, und hast alle Prüfungen bestanden. Mit deinen Taten hast du bewiesen, dass du meine Tochter wirklich verdienst. Nun also, soll Blümchen deine Frau werden, wenn ihr euch das so sehr wünscht.“

Dann wandte er sich zu seiner Tochter:

„Ich werde dir von deiner Entscheidung nicht abraten, Blümchen, denn auch ihr zwei habt Recht auf das Glück, das euere Liebe ist. Ich habe aber um dich in der Welt der Menschen große Angst. Fremde Umgebung, Verstellung und Trug werden dir schaden genau so wie den Blumen eine plötzliche Verpflanzung. Und falls du mal traurig sein solltest, erinnere dich, meine Tochter deines alten Vaters, dem du die einzig wahre Freude warst und der dich immer lieben wird. Und merke dir, dass du zu mir immer zurückkehren kannst.“

Als der Greis Leben zu Ende gesprochen hatte, drückte er allen herzlich die Hand, schwang sein Zauberzepter und die Hütte samt dem Gärtchen verschwand. Der König und der Prinz standen hier, zusammen mit Blümchen, vor der königlichen Kutsche allein.
So stiegen sie alle in die Kutsche und fuhren fröhlich zum Schloss. Es wurde eine glanzvolle Hochzeit gefeiert, die mehrere Wochen dauerte. Es schien, dass alle glücklich waren und dass nichts diese gute Stimmung trüben konnte.

Nach der Hochzeit begann im Schloss der ruhige Alltag. Paul war sehr glücklich, denn er hatte sein Liebchen an seiner Seite. Er irrte aber, wenn er meinte, dass auch seine Frau im Schloss gänzlich zufrieden war. Blümchen litt von Tag zu Tag mehr. Sie war nicht mehr so lustig wie früher, sie schritt nicht mehr durch den königlichen Garten, sie sang nicht mehr. Sie saß nachdenklich am Fenster und schaute traurig in die bläuliche Ferne. Ihre Augen verloren den Glanz, ihre Wangen nahmen eine wächserne Blässe an. Bei Paul beschwerte sie sich, um sein Herz nicht zu verletzen, nie. Sie wusste doch, wie sehr er sie liebte, dass nur sie sein Glück war.

Paul hoffte zuerst, dass sich Blümchen daran gewöhnen würde, und versuchte sie vielseitig zu erheitern. Aber er fühlte ihren übergroßen Schmerz, und so fragte er sie eines Tages, als sie zusammen im Garten, im rosa Pavillon, saßen, was sie betrübte und wie er ihr helfen könne. Blümchen weigerte sich lange, ihm die Wahrheit zu sagen, sie wollte ihm keinen Schmerz zufügen, aber als er nicht nachgab, sagte sie:

„Ich habe Sehnsucht nach der Heimat, nach meinem Vater, lieber Paul. Suche ihn auf und sage ihm, dass ich ständig an ihn denke. Bitte ihn, dir den Zauberspiegel, der an der Wand in meiner Stube hängt, zu geben. Wenn ich den Spiegel habe, kann ich ständig bei ihm sein.“

Gleich am nächsten Tag begab sich Paul auf die Reise. Gedankenverloren ritt er durch den Wald und gab seinem Pferdchen Bräunling die Zügel frei. Er wusste, dass der Greis Leben sich ihm zur rechten Zeit von selbst zeigen würde. Wie er ritt, erschien vor ihm plötzlich ein schönes Mädchen, seiner Frau sehr ähnlich. Es war ihre Schwester Neid und lud Paul zu sich zu Besuch ein. Paul wollte zuerst nicht, aber dann, um Blümchens Schwester nicht zu beleidigen, nahm er ihre Einladung an.

Sie schritten zusammen durch den Wald, bis sie auf eine Lichtung kamen, wo ein schönes Häuschen mit großem Garten stand, in dem sich ein Bächlein durchs Moos wand. Aber merkwürdig, das Wasser im Bach war warm und salzig und als der müde Paul davon einen Schluck nehmen wollte, sagte ihm Neid:

„Trinke nicht davon, Paul, sonst wirst du das ganze Leben unglücklich; das sind menschliche Tränen. Der Bach gehört unserem Bruder Leid. Er ist nicht oft zu Hause, er hat immer viel zu tun unter den Menschen.“

Aus dem Häuschen kamen zwei weitere Mädchen heraus, wieder seiner Blümchen ähnlich. Es waren Hass und Bosheit. Als Paul alle Schwestern begrüßt hatte, fragten sie ihn, wohin er unterwegs sei. So erzählte er ihnen, dass Blümchen krank sei und er zum Väterchen Leben ginge, um ihn um Rat und Hilfe zu bitten. Die Schwestern lächelten seltsam, und als er seine Geschichte beendet hatte, pflückte Neid eine schöne blutrote Rose, besprengte sie mit Wasser aus dem Bach und reichte sie Paul:

„Bringe diese Rose Blümchen als ein Geschenk von uns. Sie wird sie sicher heilen, erzähle aber unserem Vater von diesem Geschenk nicht.“

Dann brachten ihn die Schwestern auf den Weg. Paul ahnte keinen Verrat und verbarg die Rose sorgfältig im Tornister. Er verabschiedete sich von Blümchens Schwestern und ritt weiter durch den Wald.

Er ritt und ritt als er plötzlich hinter sich eine bekannte Stimme hörte: „Suchst du mich, Paul?“

Paul drehte sich nach der Stimme um und sah Blümchens Vater.

„Ich weiß weshalb du kommst“, sagte Leben. „Blümchen leidet an Kummer und denkt, dass der Zauberspiegel sie wieder gesund macht, nicht wahr? Lass uns schnell zur Hütte eilen“, forderte ihn Leben auf.

In der Hütte war alles beim Alten und als sie in Blümchens Stube traten, reichte Leben Paul den kleinen Spiegel:

„Wer auch immer in den Spiegel schaut und an eine ihm teure Person denkt, dem erscheint darin, auch wenn sie noch so weit weg wäre, ihr Abbild.“

Paul nahm den Spiegel in die Hände und dachte sogleich an seine Frau Blümchen. Das, was er im Spiegel sah, machte ihn sehr traurig. Blümchen lag blass und regungslos im Bett, viele berühmte Ärzte und Weise, die sein Vater aus aller Welt hatte rufen lassen, waren um sie herum versammelt. König Heinrich stand sehr traurig im Hintergrund, er hatte die junge, herzliche Frau seines Sohnes wirklich lieb gewonnen. Paul erkannte, dass Blümchens Zustand sich böse verschlimmert hat und wollte, um wenigstens in ihrer Nähe zu sein, sofort den Rückweg antreten. Vater Leben hielt ihn aber zurück:

„Warte, Paul. Du kämest nicht rechtzeitig nach Hause, denn deine Frau wird in wenigen Augenblicken sterben.“

Pauls Herz befiel ein unermessliches Leid über den bevorstehenden Verlust seiner geliebten Frau. Er legte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich:

„Kann ich denn Blümchen wirklich nicht mehr helfen?“

Als Vater Leben Pauls Schmerz sah, erbarmte er sich und sagte:

„Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Beeile dich, Paul!“

Schnell traten sie aus der Hütte und Leben führte Paul in einen großen, von mannigfaltigsten Düften durchströmten Garten. In einem Teil des Gartens zog sich ein wunderschöner Rosengarten, wohin das Auge reichte. Im anderen Teil gab es verschiedene Blumen aller Arten, Farben und Größen. Am Gartentor stand eine mächtige, blütenreiche Linde, deren frische grüne Äste sich in alle Richtungen ausstreckten.

„Dieser gesunde und schöne Baum, der hier seit Menschengedenken steht, ist das Symbol der Seele deines Volkes. So lange er nicht vergeht, geht auch dein Volk nicht unter“, sagte Leben und öffnete das Gartentor.

„Kein Sterblicher ist je hier gewesen. Schau, Paul, dieser Rosengarten ist der Garten des menschlichen Lebens und das kleinere Gärtchen, voll mit verschiedenartigen kleinen bunten Blumen dort, ist der Garten des Lebens anderer Lebewesen auf der Welt. Meine Tochter Blümchen hilft mir, ihn zu pflegen.

Beide Teile meines Gartens plagt oft schlimmes Ungeziefer und fast jedes Pflänzchen hat einen versteckten Makel. Ich habe aber kein Recht, jemandem die Tage seines Lebens zu verlängern oder zu verkürzen und darum darf ich keinen Fehler, auch wenn ich von ihm weiß, selbst beseitigen. Ich versorge fleißig alle Pflanzen, gieße sie, aber sonst lasse ich ihnen die volle Freiheit zu wachsen und zu blühen, wie es ihnen beliebt.“

Vorsichtig schritten sie durch den Rosengarten weiter, um keine Staude zu beschädigen, bis Leben plötzlich bei einem besonders kräftigen Rosenstrauch stehen blieb:

„Siehst du, Paul, jeder blühende Strauch stellt eine Familie dar. Große Äste stellen die Eltern dar und die schmalen, zierlichen Triebe, das sind die Leben der Kinder.
Sobald irgendwo auf der Welt die Eltern ein Kind bekommen, treibt hier ein neuer Ast aus und auf ihm dann eine frische Knospe. Ebenso geschieht, wenn in die Familie ein Bräutigam, oder eine Braut einheiratet. Der Ast ist frisch und grün, solange der Mensch nicht stirbt, dann welken die Blüten und der Ast stirbt ab.“

Dann lenkte Leben seine Schritte in die Mitte des Gartens, wo die Rosen von schönsten Blüten und Farben waren und sagte ernst:

„Hier, Paul, ist die Staude deiner Familie.“

Paul betrachtete aufmerksam den Rosenstrauch. Ein alter, kräftiger Ast blühte und hatte frische grüne Blättchen. An ihn schmiegte sich ein zweiter schmaler Ast, der aber vollständig trocken und abgestorben war – das war der Lebensast seiner verstorbenen Mutter, Königin Marie. Aus dem Strauch sprossen noch zwei junge grüne Zweige. Beide waren gleich gut gewachsen und reich blühend, nur einer davon welkte schnell, direkt vor ihren Augen. Die Blätter und die Blüten neigten sich traurig immer mehr dem Boden zu.

„Das ist Blümchens Leben“, sagte der Greis traurig, „wenn dieser Zweig verdorrt, stirbt deine Frau.“

„Das darf nicht geschehen“, rief Paul verzweifelt und begann ein Blättchen nach dem anderen den welkenden Zweig sorgfältig zu betrachten. Bald fand er den Grund für Blümchens Krankheit. Unten, knapp über der Erde fraß am Zweig ein großer, hässlicher schwarzer Wurm. Paul schüttelte sich angewidert, riss ihn vom Zweig weg und zertrat ihn mit dem Stiefel. Dann schöpfte er aus dem Zierteich Wasser und besprengte damit den absterbenden Zweig. Das Zweiglein, wie aus einem schweren Traum erwachend, richtete sogleich seine Blätter, Blüten und Knospen auf und erwachte zu neuem Leben. Paul schaute schnell in den Spiegel. Blümchen saß bereits auf ihrem Bett und lächelte. Sie war gerettet und mit ihr auch Pauls Glück.

Da sagte Vater Leben:

„Ich wusste gut, dass an Blümchens Leben der Wurm des Kummers nagte, ich durfte ihr aber nicht helfen, auch wenn sie meine liebste Tochter ist. Deshalb brachte ich dich her, damit du selbst sie rettest. Blümchen ist aber noch nicht ganz gesund. Es fehlt ihr das Wasser des Glücks, mit dem sie sich wusch, als sie noch bei mir war und allen Leidenden half. Das kann ich dir leider nicht geben, denn dieses Wasser muss immer frisch sein, sonst verliert es seine Zauberkraft. Ich gebe dir aber einen Rat. Gehe zum Brunnen, dem das Wasser des Glücks entspringt und bitte die Nymphe Gerlinde, die die Quelle bewacht, dir zu helfen.“

Nach den Worten verabschiedete sich Väterchen Leben von Paul, umarmte ihn und sagte:

„Ich danke dir für die Rettung meiner Tochter. Reite nun immer weiter, bis dein Pferd mit dem Hufeisen am großen Stein klirrt, dann gehe dreißig Schritte dorthin, wo der Kuckuck ruft. Dort findest du den Glücksbrunnen. Bleibe gesund, Paul, ich segne eure Liebe, lebe mit meiner Tochter glücklich und zufrieden. Grüße zu Hause alle von mir. Heute haben wir uns zum letzten Mal gesehen. Das, was du hier gesehen hast, behalte in deiner Erinnerung nur für dich.“

Als Leben zu Ende gesprochen hatte, winkte er Paul zum Gruß und verschwand.

Paul tat so, wie ihm Leben geraten, und nach kurzer Zeit stand er an einer kleinen Quelle. Er beugte sich über das Wasser und rief:

„Gerlinde, hilf mir bitte!“

Die Wasserfläche kräuselte sich und aus ihr trat ein schönes Mädchen, das in der Hand ein Sträußchen blauer Vergissmeinnicht hielt. Die Nymphe hörte sich Pauls Bitte an und sagte:

„Ich grüße dich, Paul, ich werde gern deinen Wunsch erfüllen. Blümchen ist meine gute Freundin und ich denke oft an sie. Warte hier, ich komme gleich zurück.“

Das Wasser wallte auf und die Nymphe verschwand in den Wellen. Als sie wieder auftauchte, hielt sie in der Hand ein Kristallfläschchen, das sie Paul reichte.

„Wenn du nach Hause kommst, gieße das Wasser an eine schattige Stelle im königlichen Garten. Grüße von mir deine Frau Blümchen und werdet beide glücklich.“

Nach diesen Worten verschwand die Nymphe Gerlinde in den Wassern der Quelle. Paul legte das Fläschchen sorgfältig in den Tornister, bestieg seinen Bräunling und jagte, schnell wie der Wind, nach Hause. Er freute sich so sehr auf das Wiedersehen mit Blümchen und mit seinem Vater. Die Reise ging schnell voran und so erblickte er bald am nächsten Berg das väterliche Schloss. Freudig passierte er, vom Volk, Blümchen und seinem Vater gegrüßt, die Schlosstore. Als er alle begrüßt hatte, erzählte er Blümchen von seiner Begegnung mit ihrem Vater Leben und nahm dann aus dem Tornister den kleinen Spiegel und das Kristallfläschchen.

Alle begaben sich in den königlichen Garten und Paul besprengte mit dem Wasser aus dem Fläschchen den grünen Rasen im Schatten einiger großen Bäume. Im selben Augenblick spross aus dem Boden ein kleiner Strahl kristallklaren Wassers. Blümchen bückte sich zu ihm hinunter, nahm etwas vom kühlen Wasser in die Hände und wusch sich damit die Wangen, die sofort rosig wurden. Dann besprengte sie mit dem Zauberwasser Paul und den König, deren Herzen sofort höher schlugen. Allen strahlte die Freude über ihr Wiedersehen aus den Augen.

Als sie sich zurück zum Schloss aufmachten, fiel Paul das Geschenk von Blümchens Schwestern ein und zog aus dem Tornister die Rose heraus. In dem Augenblick, als er sie mit Grußworten der Schwestern Blümchen reichte, kam plötzlich starker Wind auf und riss die Rose fort, geradewegs in die Quelle des Glücks. Sobald die Rose in das Wasser des Glücks fiel, verwandelte sie sich in einen schwarzen Raben, der unter lautem Krächzen davonflog.

„Ein sonderbares Geschenk, meine Liebe“, sagte Paul verdutzt.

„Die Rose hätte mich vernichten können“, antwortete Blümchen traurig. In ihrer Seele aber, wurde sie ihren Schwestern, die für sie anstatt Hilfe, einen Verrat vorbereitet hatten, nicht böse. Einer bösen Tat kann man nicht, wie manche Menschen denken, mit Bösem begegnen. Ebenso wie es nötig ist, gute Taten zu vollbringen, so sollten die Menschen lernen das Böse zu verzeihen, sonst kann die Welt niemals besser werden. Dies war Blümchens Botschaft.

Mit Blümchens Genesung kam das Glück ins Schloss zurück. Paul wurde seinem Volk ein guter und gerechter König, der sich in allen Angelegenheiten mit seiner weisen Frau beriet. Zur jungen Königin, die allen helfen und Not und Leid vertreiben konnte, pilgerte das Volk in Scharen. Blümchen wies nie eine Bitte ab und so herrschte im ganzen Königreich Glück und Zufriedenheit für alle Zeiten. Vater Leben hatte sie gesegnet und sie verdienten ganz bestimmt ihr Glück.

„Uns um das Glück der Anderen kümmernd, finden wir unser eigenes.“
(Platon)

Von den Berggeistern und dem tapferen Wenzel

Es ist schon lange her, als am Heiligen Abend in einer kleinen, bis zum Dach eingeschneiten Bergmannshütte ein Junge geboren wurde, dem seine Eltern den Namen Wenzel gaben. Die Mutter legte das Kind in die Wiege, als die Uhr am Kirchturm gerade Mitternacht schlug.

Solange Wenzel beide Eltern hatte, ging es ihm gut auf der Welt. Der Vater arbeitete im Bergwerk und kümmerte sich gewissenhaft um seine Familie. Immer, wenn er von der Zeche nach Hause kam, fand er auch Zeit für sein Söhnchen. Er nahm ihn auf den Schoß und erzählte ihm von der schweren Arbeit im Bergwerk und auch von den Minenkobolden, den Berggeistern, die alte Bergleute für ihre schelmische, lustige Art oft Zechenwichte nannten. Er erzählte, wie diese winzigen Bewohner des unterirdischen Reiches sorgfältig ihre Schätze bewahrten und das Leben von Bergleuten aufmerksam überwachten. Wenn den Bergleuten irgendwo Gefahr drohte, zündeten die Minenkobolde dort ein rotes Licht an. Folgten die Bergleute ihrer Warnung, konnten sie oft ihr eigenes Leben retten.

Der Vater konnte sehr schön erzählen und der kleine Wenzel bettelte immer:

„Vati, erzähle noch ein bisschen. Und wie zünden die Zechenwichte das Licht an?“

„Nun ja, mein Sohn, der Zechenwicht winkt mit seiner Grubenlampe, und da die Berggeister lieber für unsere Augen unsichtbar bleiben, scheint es so, als wenn das rote Licht von ganz alleine über dem Boden tanzen würde.“

„Und du, Vati, hast du schon einen Zechenwicht gesehen?“

„Einen Zechenwicht nicht, Wenzel, aber das rote Licht sah ich schon ein paar Mal, und wie mich, so hat es auch deinen Großvater vor dem sicheren Tod gerettet. Und jetzt, Wenzel, ist es schon Zeit schlafen zu gehen“, beendete der Vater seine Erzählung und brachte den Knaben zu Bett.

Die Tage und die Jahre vergingen schnell. Wenzel schoss in die Höhe, aber das Geheimnis der Minenkobolde reizte ihn nach wie vor. Wieder und immer wieder fragte er den Vater über das rote Lichtlein und die Zechenwichte aus, der aber antwortete immer:

„Heute, lieber Junge, habe ich nichts davon gesehen.“

Und die Zeit verging. Wenzel wurde bald vierzehn Jahre alt und da geschah es, dass sein Vater eines Abends nicht nach Hause kam. Ein Hunt, voll mit Erz geladen, der sich von den anderen losgerissen hatte, hatte ihn im Stollen erfasst und der Vater fand im Bergwerk den Tod. Alles war so schnell gegangen, dass auch die Zechenwichte ihn nicht rechtzeitig hatten warnen können.

Über die kleine Hütte kamen plötzlich Unglück und Trauer. Auf einmal waren alle Hoffnungen begraben. Der Vater hatte dem Knaben versprochen, ihn in der Stadt studieren zu lassen, denn Wenzel war ein scharfsinniger, wissensdurstiger Junge, aber jetzt war alles verloren. Über das Haus kam die Not. Ein schwerer Winter erwartete Wenzel und seine Mutter und sie wussten nicht, wie sie ihn ohne Geld meistern sollen.

Als Wenzel sah, wie sich seine Mutter quälte, beschloss er, an seines Vaters Stelle ins Bergwerk arbeiten zu gehen, um der Mutter das schwere Schicksal ein wenig zu erleichtern. Die Mutter weinte zuerst und wollte es nicht erlauben, aber da es keine andere Möglichkeit gab, stimmte sie schließlich zu.

Dem alten Bergwerksverwalter gefiel des Knaben Mut und seine Liebe zur Mutter. Er nahm ihn in den Dienst und versprach ihm eine leichtere Arbeit. Und Wenzel freute sich, der Mutter doch etwas helfen zu können. Am Sonntag änderten sie die Bergwerksausrüstung des Vaters, und dann kam endlich der erste Arbeitstag.

Der kleine Kumpel war ein trauriger Anblick, in Vaters geänderter Kleidung, die ihm doch etwas zu groß war, und mit der am Ledergürtel festgemachten Grubenlampe. Die Mütze, auf die zwei gekreuzte Hämmer – das Zeichen der Bergleute – gestickt waren, fiel ihm über die Augen. Trotzdem schritt Wenzel entschlossen die Straße zum Bergwerk entlang wie ein erwachsener Mann. Beim ersten Mal brachte ihn die Mutter zur Zeche. Am Weg begegneten ihnen andere Bergleute, die sie aufrichtig grüßten:

„Glückauf!“ hallte es ringsum.

Die Bergleute waren gerührt vom schweren Schicksal des Waisenknaben und der Witwe, in manchem Auge standen die Tränen.

Der Verwalter erwartete sie schon und grüßte beide freundlich:

„Komm nur, Kumpel, bei mir wirst du eine leichte Arbeit bekommen. Ich halte mein Versprechen, habe ich doch deinen Vater sehr gern gehabt. Du wirst mit den leeren Hunten fahren und das Pferdchen betreuen.“

Als er das traurige, sorgenvolle Gesicht der Mutter sah, sagte er:

„Machen Sie sich keine Sorgen, Mütterchen, Wenzel wird es bei uns nicht schlecht haben. Die Kumpel werden auf ihn Acht geben, er ist doch der Sohn ihres Freundes. Abgesehen davon, ist er ein flinker und geschickter Junge, ich selbst habe mich davon überzeugt. Es wird ihm schon nichts Böses zustoßen. Im Gegenteil, er kann manch Nützliches bei uns lernen.“

Nach diesen Worten verabschiedeten sich die Beiden von der Mutter, stiegen in den Förderkorb, zogen an der Kette und fuhren langsam hinab. Lange sanken sie in die unterirdischen Tiefen und Wenzel wurde beim ersten Mal doch angst und bange. Er war froh, dass er den alten Verwalter an seiner Seite hatte, der, als er des Jungen Beklommenheit sah, ihn bei der Hand nahm und freundlich lächelte:

„Keine Angst, Wenzel, bald wirst du dich eingewöhnen. Hier ist es genauso lustig wie oben auf der Erde. Und im Winter haben wir es hier wärmer als zu Hause hinterm Ofen.“

Endlich setzte der Korb am Boden auf.

„Wir sind vor Ort“, sagte der Verwalter. Aus der Ferne hörte man das Klirren der Spitzhacken und die Schläge der Pickel. Wenzels Augen konnten sich noch nicht an das Zwielicht gewöhnen und so stolperte er eher als er ging neben dem Verwalter her, der ihn freundlich beruhigte. Die Stollen, die vom Förderkorb in alle Richtungen verliefen, kamen dem Jungen wie ein unüberwindliches Labyrinth vor.

„Bald wirst du hier spazieren gehen wie auf der Straße, es ist nur Gewohnheit, du wirst selbst sehen.“

Das Geklirre der Spitzhacken kam immer näher, bis man auch die Stimmen der Bergleute hörte. Endlich kamen sie zum Ende des Stollens.

„Glückauf“, grüßte der Verwalter alle Kumpel.

„Ich bringe euch einen neuen Helfer. Das ist Wenzel, der Sohn eueres Freundes. Gebt auf ihn Acht und versucht, ihm den Anfang etwas zu erleichtern“, sagte der Verwalter ernst.

Dann wandte er sich zu Wenzel:

„Und du Junge, höre auf ältere Kumpel und gib auf alles gut Acht, damit du dich bald einarbeitest, und komm am Samstag bei mir vorbei, um deinen ersten Lohn abzuholen“, sagte noch der Verwalter, drückte Wenzel zum Abschied freundschaftlich die Hand und ging langsam zum Stollenausgang.

Die Bergleute setzten ihre Arbeit fort und Wenzel blieb allein. Die Hacken klirrten und auf den Stollenboden fielen kleine Steinbrocken, die mit weißen Äderchen durchwebt waren. Manche Stückchen leuchteten – es war Silbererz. Der älteste Kumpel sagte zu Wenzel:

„Schau dich erst einmal etwas um, Junge. Bald kommt Ivan zurück und zeigt dir, wohin du mit den leeren Hunten fahren sollst und wo der Stall des Pferdes ist.“

Wenzel setzte sich auf einen Felsbrocken, nahm ein Stück des kalten Steins in die Hand und zitterte vor Angst. Er war plötzlich traurig. Er erinnerte sich seiner Mutter und der strahlenden Welt irgendwo dort oben. Er schaute in den schwarzen Stollen, woher er gekommen war, und da schien es ihm, als ob er in der Ferne ein kleines Lichtlein sehe. Er irrte nicht. Es kam ein junger Bergmann und am Zügel führte er ein kleines Pferd, das vor mehrere Hunte eingespannt war. Das Pferdchen wieherte freudig, als es sah, dass der Weg zu Ende war. Der junge Bergmann drückte Wenzel herzlich die Hand:

„Du bist sicher Wenzel. Ich heiße Ivan. Es ereilte uns ein ähnliches Schicksal, auch ich bin eine Waise. Ich freute mich schon auf dein Kommen, zusammen wird´s hier für uns fröhlicher.“

Ivan spannte das Pferdchen aus, tränkte es und legte einen Arm voll Heu auf den Boden. Dann setzte er sich zu Wenzel und bot ihm ein Stück von seiner Vesper an. Aber der verstummte Wenzel hatte zum Essen und zum Reden keine Lust.

„Du hast Angst, nichtwahr, Wenzel? Aber mir erging es auch nicht besser, als ich zum ersten Mal hier war. Und du siehst, jetzt bin ich schon zwei Jahre hier und mir ist noch nie etwas Schlimmes passiert.“

Inzwischen luden die Bergleute die Hunte voll mit Erz und die Pause war zu Ende. Ivan spannte das Pferdchen wieder ein und beide Jungen gingen langsam zur Füllhöhe, wo das gewonnene Erz zur Oberfläche hinaufgezogen und zum Schmelzen gefahren wurde. Die ganze Zeit schien es Wenzel, dass aus den Stollenwänden wunderliche, wilde Gesichter Grimassen schnitten, und jedes Geräusch jagte ihm im Zwielicht Schrecken ein. Endlich kamen sie bis zur Füllhöhe.

Erst jetzt wurde Wenzel bewusst, wie viel Mühe die Bergleute aufbringen mussten, bis das glitzernde Gestein mit den silbernen Äderchen in die Förderkörbe gelangte. Als sie den Korb mit Erz gefüllt hatten, zog Ivan am Seil und der Korb wurde von den Arbeitern hochgezogen.

Als sie den Inhalt aller Hunte umgeladen hatten, fuhren sie um weiteres Erz zurück zu den Bergleuten. Unterwegs zeigte Ivan Wenzel auch andere Stollen. In manchen wurde nicht mehr gefördert, andere waren zwei bis drei Stunden Fußmarsch lang. Wenzel erschienen sie endlos. Ivan warnte den jüngeren Kumpel, allein herumzugehen, solange er sich im Bergwerk nicht gut auskannte, denn er könnte sich verlaufen.

In der Mittagspause begrüßte Wenzel auch die anderen älteren Kumpel. Alle nahmen ihn freundlich bei sich auf. Die Bergleute erzählten ihm viele Geschichten von schelmischen Minenkobolden und ihren durchtriebenen Scherzen, die sie bevorzugt gerade mit jungen Kumpeln, die unter Tag noch Angst hatten, anstellten. Die Kumpel meinten den Jungen mit diesen Geschichten etwas aufmuntern zu können, aber Wenzel bekam von ihren lustigen Erzählungen am dem ganzen Körper eine Gänsehaut. Er wünschte sich nur, dass die erste Schicht zu Ende ginge und er wieder die Sonne und seine Mutter sehen könnte.

Als auch die zweite Pause zu Ende war, fragte Wenzel Ivan auf dem Weg zur Füllhöhe zögerlich:

„Meinst du, Ivan, dass im Bergwerk irgendwelche Geister leben?“

„Ich weiß nicht, Wenzel, ich selbst habe noch keine gesehen. Sie erscheinen nicht jedem Kumpel. Man sagt aber, dass die Zechenwichte die Waisen von Bergleuten, die am Heiligen Abend geboren worden sind, besonders sorgfältig beschützen und ihnen bei der Arbeit helfen, damit sie das Glück finden,.“

„Ich wurde auch am Heiligen Abend geboren, es könnte vielleicht ein gutes Omen sein, was meinst du, Ivan?“, sagte Wenzel nachdenklich.

„Ich würde mir sehr wünschen, dass sich der alte Aberglaube der Bergleute erfüllt und die Wichte dir helfen, einen Schatz zu finden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer das Los eines Waisen ist. Weder du noch ich wurden auf Rosen gebettet. Ich wurde aber nicht am Heiligen Abend geboren“, ergänzte Ivan schmunzelnd.

Endlich war die Schicht zu Ende. Die Burschen brachten das müde Pferdchen in den in Fels gehauenen Stall, gaben ihm Hafer in den Trog und stellten ihm einen Eimer mit Wasser hin. Dann fuhren sie endlich hinauf in den rosigen sommerlichen Sonnenuntergang hinein. Wie schön war es oben auf der Erde! Wenzel eilte zur Mutter und erzählte ihr den ganzen Abend, was den Tag über im Bergwerk geschehen war und mit wem er sich schon bekannt gemacht hatte. Die Mutter war froh, dass es dem Sohn in der Zeche gefiel und er unter guten Menschen war. Die Woche ging schnell vorüber und Wenzel bekam den ersten Lohn. Welche Freude kam auf, als er die ersten Silberlinge vor der Mutter auf den Tisch legte. Die kleinste Münze hob die Mutter ihrem Jungen zur Erinnerung auf.

Weitere Wochen gingen schnell ins Land und Wenzel war im Bergwerk schon wie zu Hause. Nach und nach machte er sich mit allen Kumpeln bekannt und fuhr mit dem Pferdchen oft schon allein zur Füllhöhe. Auch mit der Spitzhacke hatte er es schon probiert, aber für so schwere Arbeit war er noch zu schwach. Und so lud er lieber das Erz aus und ein und kümmerte sich um das Pferdchen. Alle Kumpel hatten den stillen und arbeitsamen Knaben bald lieb gewonnen.

Oben auf der Erde näherte sich inzwischen schon der Winter. Unten in den Stollen war es aber immer gleich angenehm warm, wie im Sommer an der Sonne. Die Zeit verflog und Wenzel arbeitete in der Zeche schon fast ein halbes Jahr. Früh am Tag ging er weg und spät am Abend kehrte er nach Hause zurück, wie sein Vater. Der Dezember kam und alle Bergleute freuten sich ungeduldig auf Weihnachten. Wenzel wurde es traurig ums Herz -0 es sollte die erste Weihnacht ohne den Vater sein! Trotzdem freute er sich, dass er wenigsten die Mutter mit einem kleinen Geschenk überraschen würde.

Am Heiligen Abend kam so viel Schnee herunter, dass die Bergleute nur mit Mühen durch die hohen Schneeverwehungen zur Schacht kamen. Am diesen Tag hatte niemand große Lust zur Arbeit und alle erwarteten sehnsüchtig das Glockenzeichen, das das Ende der Schicht bekannt gab. Wenzel fuhr an diesem Tag mit den Hunten allein, denn Ivan war krank geworden. Als er zum dritten Mal das Erz holen kam, sagten ihm die Kumpel, dass er nicht mehr zurückkommen müsse, das Pferdchen in den Stall bringen und beim Fahrkorb auf sie warten solle, um dann gemeinsam hochzufahren.

Wenzel gehorchte gern. Er legte dem Pferdchen das Zaumzeug ab, legte ihm in der Höhle ein Paar Bündel Stroh unter, fütterte und tränkte es. Und da die Kumpel immer noch nicht kamen, legte er sich, um sich etwas auszuruhen, neben das Pferdchen auf das Stroh. Er wartete, dass die Bergleute bald den Arbeitsschluss anläuten würden, aber die Glocke, die die Weihnachtsschicht beendete, erklang immer noch nicht. Wenzel beobachtete das flackernde Licht der Berglampe. In der Wärme, der Stille, der Ruhe und dem Zwielicht fielen ihm langsam die Augen zu, bis ihn der Schlaf übermannte.

Als die Glocke, die die Bergleute hinauf rief, erklang, schlief Wenzel wie ein Toter; er schlief so fest, dass er weder die Stimmen der Kumpel, noch das Rumpeln des auf- und abfahrenden Förderkorbes hörte. Die Grubenlampe brannte aus und das Licht erlosch, so dass ihn auch der Kumpel nicht bemerkte, der zum Stall kam, um nachzusehen, ob der Junge dort etwa aufgehalten worden war. Alle dachten, dass Wenzel schon früher hochgefahren war, um zeitig zu Hause bei der Mutter zu sein.

Das Bergwerk fiel in tiefen Schlaf und Wenzel blieb unter Tage völlig allein. Aus dem tiefen Traum hatte ihn nicht einmal das überraschte Wiehern des Pferdchens geholt.

Wenzels Mutter hatte schon lange das Weihnachtsessen gekocht und wartete ungeduldig auf die Rückkehr ihres Sohnes. Über das Dörfchen war die Nacht gekommen und am Firmament erstrahlten, wie Löwenzahn auf der Wiese leuchtend, Tausende von Sternen. Und die Mutter hielt immer noch Ausschau nach Wenzel. Die Menschen eilten in die Kirche zur Messe, die Kuckucksuhr hatte längst Mitternacht geschlagen, aber Wenzel kam nicht.

Die Mutter legte etwas Holz ins Feuer und ging vors Häuschen schauen, aber ringsum herrschte nur weiße Stille. So kehrte sie wieder zurück in die Hütte, setzte sich zum Feuer und überlegte, was dem Sohn zugestoßen sein konnte. Es war doch kein Unglück in der Zeche gemeldet worden. Alle Bergleute waren gesund zu ihren Familien zurückgekehrt und saßen mit ihnen beim Weihnachtstisch. Vielleicht hatte der Verwalter, der den Knaben besonders lieb gewonnen hatte, Wenzel zum Abendessen eingeladen. Bei diesem Gedanken beruhigte sich die Mutter ein bisschen.

Als die Kirchenglocke ertönte, die zur Mitternachtsmesse einlud, erwachte Wenzel plötzlich aus seinem Traum. In seiner Verschlafenheit wurde ihm eine Weile nicht bewusst, wo er sich befand. Erst als er des Pferdchens leises Wiehern hörte, begriff er, was los war. Er war in der Zeche eingeschlafen! Da schüttelte es ihn und ihm wurde angst und bange. Wie käme er bloß jetzt wieder heraus? Seine Grubenlampe war schon lange ausgegangen, das Öl war verbrannt, wie in der Finsternis den Weg finden? Was sollte er nur tun?

Wenzel dachte an seine Mutter, welchen Kummer er ihr an diesem Feiertag bereitet hatte, und die Trauer kam über ihn. Er wusste, dass er zur Füllhöhe kommen musste um nach Hilfe zu läuten. Vielleicht würde ihn der Wärter doch hören -0 das war seine einzige Hoffnung. Er verließ den Stall und stolperte der Erinnerung nach zur Füllhöhe. Es war ohne Licht kein einfacher Weg. Immer wieder musste er anhalten und sich ausruhen. Es schien ihm, dass er schon sehr lange ging, aber der Weg nahm immer noch kein Ende. Er schritt immer vorwärts, aber merkwürdig -0 von der Füllhöhe war nichts zu sehen. Plötzlich stießen seine Hände an den Fels. Der Stollen endete. Wenzel befand sich in einer Sackgasse.

Erschöpft vom langen, nutzlosen Irren durch die undurchdringliche Finsternis, setze er sich auf den Boden und schloss die Augen. Immerfort kehrten seine Gedanken zu seiner Mutter zurück und er war dem Weinen nahe. Da hörte er in der Nähe ein schwaches Klopfen. Die gegenüberliegende Stollenwand öffnete sich, und ein kleines Männchen mit einer Grubenlampe trat heraus. Wenzel konnte vor Aufregung nicht atmen. Im flackernden Schein, der die kleine Gestalt beleuchtete, beobachtete er eindringlich den Wicht. Keinen Augenblick zweifelte er, einen Berggeist vor sich zu haben, einen Bewohner des unterirdischen Reiches.

Der Zechenwicht war angezogen wie ein Bergmann, nur die Farbe seiner Kleidung unterschied sich. Vielleicht war es durch den Widerschein der Grubenlampe verursacht, in dem alles ringsum scharlachrot glühte. Er hatte rötliche Kleider und eine Mütze in der Farbe des Klatschmohns auf dem Kopf, am Gürtel hatte er ein Hammer und eine kleine Schaufel. Ein weißer, dichter Bart reichte dem Wicht bis zur Hüfte. In den Händen hielt er eine kleine Grubenlampe. Das rote Lichtlein, das in ihr brannte, kam aber nicht von einem Docht, sondern von einem großen scharlachroten Stein. Der Zechenwicht setzte sich auf einen Fels. Es schien, dass er jemanden ungeduldig erwartete.

Nach einer Weile erschien auch im anderen Stollen ein Licht, das sich langsam näherte, bis Wenzel in der kleinen Gestalt einen zweiten Berggeist erkannte, der dem ersten, der in seiner Nähe am Fels saß, aufs Haar glich. Beide Bergwichte reichten sich die Hände und setzten sich, aneinander gegenüber, auf die Felsvorsprünge.

„Wie geht es denn unserer Prinzessin? Ist sie noch krank?“ fragte der Erste.

„Leider ja, in ihren Augen ist die Dunkelheit und uns allen gehen die Kräfte schnell zu Ende, du weißt doch“, antwortete der Zweite.

„Hör mal, Andreas“, sagte der erste Wicht, „ich habe einen Bergmann gefunden, der uns, denke ich, helfen könnte.“

„Das meinst du ernst? Erzähl, wie du dir das denkst, Laurentius, bisher verstehe ich dich nicht ganz“, sagte Andreas.

Und Laurentius fing an zu erzählen.

„Vor kurzer Zeit hat in meinem Stollen der junge Kumpel Wenzel, eine Bergmannswaise, zu arbeiten begonnen. Ich erkannte, dass er ein ehrlicher und fleißiger Junge ist, der gewissenhaft für seine Mutter sorgt. Ich weiß auch, dass er genau am Heiligen Abend geboren wurde und darum für die Rettung unserer Prinzessin am Besten geeignet ist. Ich denke auch, dass er gern etwas mehr über unser unterirdisches Reich und auch über uns Berggeister erfahren würde und dass er dessen würdig ist. Ich bin mir sicher, dass wir ihm vertrauen können. Ich hoffe, dass auch unser König mit ihm zufrieden sein wird. Und wenn es Wenzel gelingt, unserer Prinzessin das Augenlicht zurückzugeben, wird ihn der König der Berggeister für seine Hilfe sicher reich belohnen.“

„Da hast du gut getan, Laurentius, den Burschen zu finden, denn auch wir Zechenwichte verkümmern von Tag zu Tag mehr ohne unsere unterirdische Sonne. Wie bringen wir aber Wenzel zu unserem König, ohne dass es die anderen Kumpel merken und den ganzen Plan vereiteln?“, fragte ihn Andreas.

„Auch daran habe ich gedacht. Und so habe ich den Jungen hierher gebracht, nachdem ich ihn im Stall mit dem Duft einer Zauberblume eingeschläfert hatte. Schau mal, Wenzel sitzt dort an der Felswand. Er hörte unser ganzes Gespräch. Du kannst ihn jetzt selbst fragen, ob er uns bei der schwierigen Aufgabe helfen will und ob er uns nicht verrät“, beendete Laurentius seine Rede.

Beide Zechenwichte drehten sich zu Wenzel um:

„Was sagst du dazu, Wenzel? Möchtest du uns helfen, unsere Prinzessin und unser ganzes unterirdisches Königreich zu retten?“, fragte Andreas den überraschten Burschen.

Erst jetzt begriff Wenzel, was ihm eigentlich an diesem Abend zugestoßen war. Er sah aber, dass die Zechenwichte mit ihm gar nicht scherzten, und dass sie ihn nicht hergebracht hatten, um mit ihm, wie sie es aus Gewohnheit mit jungen, unerfahrenen Bergleuten taten, ihre Späße zu treiben, sondern dass sie fest auf seine Hilfe hofften. Bei der Arbeit im Bergwerk hörte er oft Erzählungen, wie die Berggeister viele Male den Bergleuten in der Not geholfen und ihnen so das Leben gerettet hatten. Wie könnte er ihnen seine Hilfe ausschlagen? Wenzel hatte ein gutes Herz, also überlegte er nicht lange und sagte:

„Gern helfe ich euch, liebe Freunde, so weit dafür meine Kräfte reichen. Sagt mir, was ich für euch tun kann?“

Beide Wichte lachten erfreut:

„Wir danken dir, Wenzel, im Namen unseres Königs, aber bevor wir dich in unser Geheimnis einweihen, schwöre, dass du niemandem auf der Welt das Ziel deiner Reise verrätst. Hast du verstanden?“

„Ja, ich schwöre“, stimmte Wenzel ernst zu und zum Nachweis seines Schwurs zur Treue und zum Schweigen, den er freiwillig angenommen hat, drückte er beiden Zechenwichten die rechte Hand.

Dann begann Laurentius:

„Höre nun zu, lieber Wenzel, was in unserem Königreich geschehen ist und warum wir so sehr deine Hilfe brauchen. Unsere Prinzessin Starlene, die einzige Tochter unseres Königs Slawofil, ist sehr schön, gut und liebenswürdig. Bereitwillig hat sie jedem, der Hilfe brauchte, geholfen. Der König und auch wir alle lieben sie ihrer Güte wegen. Ihr Leben verlief lange Zeit sorglos und fröhlich. Ihre einzige große Aufgabe war, das heilige Feuer, das für uns das Gleiche bedeutet wie für euch Menschen die goldene Sonne am Himmel, in der goldenen Feuerstelle zu hüten. Das heilige Feuer beschien seit ewigen Zeiten unser unterirdisches Königreich und gab uns Berggeistern Kraft.

Einmal aber fand Starlene auf einem ihrer Spaziergänge im Stollen einen verletzten Bergmann, der ohne ihre Hilfe sicher gestorben wäre, da ihm ein Stein das Bein zertrümmert hatte. Starlene setzte sich in den Kopf ihn zu retten, und so geschah es auch. Lange aber dauerte seine Genesung und der Bergmann erzählte Starlene oft davon, wie schön es oben auf der Erde sei und redete auf sie ein, wenigstens für eine kurze Zeit mit ihm zu gehen, um diese irdische Schönheit anschauen zu können. Der König wollte es nicht erlauben und auch alle Berggeister hatten Starlene vor dem treulosen Menschen gewarnt. Aus seinen Augen lugte der Verrat, aber Starlene wollte davon nichts sehen und nichts hören. Immer nur hatte sie den Königsvater angebettelt, dem unglückseligen Ausflug zuzustimmen. Der gutmütige König war des Töchterchens Wunsch am Ende nachgekommen, aber zum Abschied sprach er zu ihr:

„Liebe Tochter, dort oben werden dich viel Licht und greller Schein überwältigen. Lass dich aber nicht täuschen. Auch dort gibt es viele kalte Schatten und Finsternis, sie sind nur nicht auf den ersten Blick so sichtbar. Wenn du es also so sehr wünschst, sieh dir die helle Sonne an, schaue dich auf der Erde um und kehre bald wieder zurück zu uns, zum heiligen Feuer. Du weißt, dass wir es nicht ausgehen lassen dürfen.”

Die Prinzessin verabschiedete sich fröhlich vom Vater und von den Berggeistern und war mit dem Bergmann aus dem Bergwerk gestiegen. Welch unglückliche Reise! Die ersten starken Sonnenstrahlen blendeten die armselige Starlene völlig. Als der Bergmann sah, was er angestellt hatte, floh er feige und ließ sie auf der Erde allein ohne Hilfe. So hat er ihr ihre Gutmütigkeit abgegolten. Die Berggeister und ihre Freunde, die Heinzelmännchen und die Feen, suchten die unglückselige Prinzessin überall, aber bis es ihnen gelang, Starlene zu finden, verflog viel Zeit und das heilige Feuer in der goldenen Feuerstelle war bereits ausgegangen. Traurig war das Wiedersehen der Tochter mit ihrem alten Vater.

Nach einiger Zeit begab sich der König zum Guten Geist der Unterwelt und der Felsen, um ihn um einen Rat zu bitten. Dieser sagte, er selbst könne der Prinzessin das Augenlicht nicht zurückgeben, da sie es wegen ihrer Neugier und Unüberlegtheit verloren hatte, aber er wolle den Berggeistern, da sie sich nicht selbst schuldig gemacht hatten, einen Rat geben, wie sie das heilige Feuer wieder zurückbekämen. Er erzählte unserem König, dass weit von hier im Meer die öde, felsige Rote Insel liegt, in deren Mitte eine Vertiefung ist, die früher ein Brunnen war. Immer am Heiligen Abend um Mitternacht falle ein Stern vom Himmel tief in den Brunnen hinein. Wenn sich eine Waise, geboren am Heiligen Abend, finden würde, die sich freiwillig für unsere Rettung zur Roten Insel begebe, alle Hinterhalte überwände, die sie unterwegs erwarteten, und für uns den Zauberstern vom felsigen Grund des durch die Glut ausgetrockneten Brunnens gewänne, würden wir gerettet. Indem der gute Mensch den goldenen Stern auf die erloschene Feuerstelle legte, würde das heilige Feuer der Berggeister wieder auflodern und seine ersten Flammen Prinzessin Starlene auch das Augenlicht wiedergeben.

Seit dieser Zeit sind schon viele Jahre vergangen und wir warten immer noch vergeblich auf unseren Retter. Du kannst dieser Retter werden, lieber Wenzel, denn einen menschlichen Verrat kann nur ein Mensch mit einer guten Tat tilgen. Komm aber zuerst mit uns ins Schloss zu unserem Herrn König, damit er dich kennenlernt.“

Die Zechenwichte nahmen Wenzel bei den Händen und führten ihn zur Felswand. Kaum hatten sie ihn berührt, öffnete sich der Fels und vor ihnen breitete sich ein weiter, geräumiger Gang aus. Wie sie weiter gingen, bemerkte Wenzel mit Verblüffung, dass sich der Gang hinter ihnen nach jedem Schritt wieder zu festem Fels schloss. Als die Zechenwichte Wenzels Staunen bemerkten, klärten sie ihn auf:

„Lieber Wenzel, wir brauchen für unsere Spaziergänge unter der Erde keine langen Stollen zu graben. Wir bewegen uns hier ebenso leicht und frei wie ihr Menschen oben auf der Erde.“

Nach einem langen Weg durch dunkle Gänge kamen sie plötzlich auf einer Wiese heraus, die sie bis zu einem herrlichen Garten führte, voll mannigfaltiger Blumen, Bäume, Sträucher und süßer Düfte. Auch wenn es hier nicht so hell war wie auf der Erde, wurde das Licht der Grubenlampen dennoch nicht benötigt. Auf einem Hügel, von allen Seiten von Gärten umgeben, ragte ein weißes Schloss empor. Im königlichen Garten begegneten sie weiteren Zechenwichten. Andreas und Laurentius grüßten sie alle fröhlich. Alle Wichte waren gleich gekleidet, hatten lange weiße Bärte und glichen einander sehr.

In einem besonders schönen Teil des Königsgartens, in dem sich viele Blumenlauben, bequeme Bänke und breite Pfade befanden, bemerkte Wenzel ein schönes, bleiches Mädchen, das von zwei ihrer Freundinnen an den Händen geführt wurde. Das war die Königstochter Starlene. Das arme Mädchen war blind. Sobald Wenzel sie sah, beschloss er, alles zu unternehmen, um den goldenen Stern zu bekommen und den ausgelöschten Augen der Prinzessin ihr Licht zurückzugeben.

Dann brach Wenzel, von beiden Zechenwichten begleitet, zum Schloss auf. Die Schlossgänge, das ganze Mobiliar, die Teppiche und sogar der Thron im Hauptsaal -0 alles war weiß und strahlte ein besonderes weiches Licht aus. Im Saal waren schon viele Berggeister versammelt und alle warteten ungeduldig auf das Erscheinen ihres Königs. Als der König in den Saal kam und Wenzel zwischen den Wichten stehen sah, trat er zu ihm und begrüßte ihn mit einer innigen Umarmung. Die Wichtelmänner konnten ihm nun erzählen, dass der Junge bereit sei, die schwere Aufgabe der Rettung seiner geliebten Tochter und des ganzen Königreiches auf sich zu nehmen.

Für die lange Reise beschenkte der König Wenzel reich. Er legte eine silberne Zaubermünze in seine Hand, damit Wenzel auf der Welt keine Not leide. Er schenkte ihm auch einen breiten, mit einem großen dunkelroten Stein bestückten Goldring, in den gekreuzte Bergmannshämmer und geheimnisvolle magische Zeichen geritzt waren. Der König steckte den Ring an Wenzels kleinen Finger und sagte:

„Alle unsere Freunde werden dir helfen, wenn sie meinen Ring an deiner Hand sehen.“

Dann trat Prinzessin Starlene zu Wenzel:

„Ich danke dir, Wenzel, dass du das wiedergutmachen willst, was meine Neugier, übermäßiges Vertrauen und Unvorsicht verursacht haben. Um dir wenigsten ein bisschen die schwierige Arbeit, die du für mich freiwillig übernehmen willst, zu erleichtern, nimm diesen Zauberhammer. Mit ihm kannst du den Stern leichter aus dem harten Fels lösen. Und solltest du einmal in Gefahr sein, hilft dir dieses Schmuckstück hier“, sagte Starlene und legte um Wenzels Hals eine feine Kette mit einer kleinen Silbermünze als Anhänger, in deren Mitte, wie ein Tropfen roten Weines, ein großer Rubinstein strahlte.

Wenzel, erfreut über die große Ehre, dankte beiden für ihre Geschenke. Er bat aber den König, sich vor der langen Reise von seiner Mutter verabschieden zu dürfen, die sich sicher bereits sehr um ihn ängstigte. Der König stimmte zu. Ihm gefiel des Knaben Liebe zur Mutter, doch er erinnerte ihn an den Schweigeschwur, den Wenzel den Berggeistern gegeben hatte. Er versicherte dem Knaben, dass die Berggeister während seiner Abwesenheit für seine Mutter gut sorgen würden. Denn diese Reise würde ein ganzes Jahr dauern.

Zum Abschied sagte der König:

„Alle glauben wir an deine glückliche Rückkehr, Wenzel. Zögere nicht und brich auf. Du wirst nicht viel Zeit haben. Bedenke, dass du mit dem Stern bis zum nächsten Heiligen Abend zu uns zurückgekehrt sein musst, sonst werden wir alle sterben. Gehe immer nach Westen, bis du zum Meer kommst, und von dort lass dich zur Roten Insel übersetzen. Diesen Rat hat mir der Gute Geist der Unterwelt und der Felsen gegeben, mehr kann ich dir nicht mit auf den Weg geben. Sei vorsichtig und traue niemandem, den du nicht gut kennst. Und nun -0 Glückauf, Wenzel!“

„Glückauf!“, entgegnete Wenzel, verbeugte such tief vor dem König, der Prinzessin und allen Berggeistern und verließ mit Laurentius das Schloss. Der König und alle Berggeister schauten und winkten ihm lange nach.

„Auf ein glückliches Wiedersehen!“, rief Wenzel noch und brach dann, zusammen mit Laurentius, tatendurstig in den dunklen Gang auf, der sich leise hinter ihnen schloss.

Der Stollen, den sie jetzt passierten, stieg an, und im Licht der Grubenlampe von Laurentius strahlte er so hell, dass die Augen brannten. Überall ringsum glitzerte lauter Silber und in die Wände waren verschiedenfarbige Edelsteine eingesetzt, die wie Laternen strahlten und dem Silber märchenhafte Schattierungen entlockten.

„Welch unermesslicher Reichtum ist hier versteckt“, rief Wenzel beeindruckt und dachte sich, wie viele Menschen könnten diese Schätze glücklich machen.

Aber der Zechenwicht sagte, als wenn er Wenzels Gedanken gelesen hätte:

„Du irrst, Wenzel, dass dieser Reichtum den Menschen wahres Glück bringen könnte. Vielleicht könnte er etwas dazu beitragen, du weißt aber selbst, dass man zum Glück etwas anderes braucht als nur klingende Münze.

Es wird noch eine lange, lange Zeit vergehen, bis wir diesen Reichtum den Menschen zeigen, lieber Wenzel. Die Menschen erliegen oft dem Lockruf des goldenen Kalbes, aber glücklich werden sie nicht. Darum leben wir seit ewigen Zeiten in diesen Bergwerken und beschützen sie vor der menschlichen Habgier und Unersättlichkeit. Es reicht ein einziger Wink unseres Königs und all das hier verwandelt sich in wertlosen Fels. Unser König erlaubt nur eine bestimmte Menge an Silber aus dem Bergwerk zu gewinnen, damit dieses Metall für die Menschen nicht an Wert verliert. Sonst würde es seinen Preis einbüßen und die Menschen würden es verschwenden.“

Wenzel überraschte die Weisheit in Laurentius´ Worten. Im Gespräch verlief die Reise sehr schnell, nach einer Weile ging der Fels in Schotter und Lehm über und im nächsten Augenblick kamen sie schon aus dem Bergwerk hinaus. Über ihnen strahlte der dunkelblaue Himmel mit Tausenden von Sternen.

„In diese Richtung liegt dein Heimatdorf. Wir müssen uns jetzt verabschieden, Wenzel. Bedenke des Königs Worte. Gott sei mit dir, lieber Freund, und komme nach einem Jahr zu uns zurück. Wenn du auf dem Rückweg bist, warte an dieser Stelle, bis es dunkel wird, damit dich niemand sieht. Dann berühre die Erde mit dem Zauberring. So öffnet sich dir der Weg in unser Königreich.“

Als der Zechenwicht zu Ende gesprochen und sich von Wenzel verabschiedet hatte, trat er zurück in den Stollen, der sich sogleich hinter ihm schloss.

Wenzel war allein. Im Kopf schwirrten ihm die Erinnerungen an das, was er gerade erlebt hatte, und er grübelte darüber nach, ob dies alles nicht nur ein Traum gewesen war. Erste Schneeflocken fingen an, durch die eisige Luft zu tanzen, und nach einer Weile kam ein kalter Wind auf, der den Knaben schnell in die Wirklichkeit zurückholte. Wenzel erzitterte vor Kälte und brach zu seiner Mutter auf.

Der treue Hund Ajax begrüßte ihn schon am Tor mit freudigem Gebell. Und erst die Mutter, was hatte sie auf den Sohn gewartet! Sie schloss ihn glücklich in die Arme. Aber ihre Freude wechselte bald in Kummer über, als sie erfuhr, dass er sich auf eine lange Reise begeben würde, deren Ziel er nicht einmal ihr verraten durfte. Lange redete sie ihm gut zu und drängte ihn, ihr wenigstens zu sagen, was er vorhatte, aber Wenzel erinnerte sie an seines Vaters Worte: Ein Versprechen ist heilig. Wenn ein Mensch jemandem seine Hilfe verspricht, muss er sein Versprechen einhalten. Und so hat sich die Mutter mit Wenzels Entscheidung schließlich versöhnt.

Als der Morgen kam und die Wintersonne aufging, trat Wenzel die Reise an. Er ging lang, sehr lang, und sein Weg wollte kein Ende nehmen. Die Landschaft war frisch verschneit und er kam nur sehr schwer voran. Der böse Wind hatte sich zwar beruhigt, aber ein dichter Schneesturm brach aus, der alle Schilder verwehte. Wie sollte Wenzel erkennen, welcher von den drei Waldwegen zum Meer führte, wenn vom Meer bislang nichts zu sehen war?

Er hatte niemanden, den er um Rat bitten konnte, und so nahm er auf gut Glück einen der Wege. Bald erkannte er, dass er sich verlaufen hatte. Das Schneegestöber wurde dichter und dem Knaben schwanden die Kräfte. Er fürchtete sich aber, einzuschlafen und in den weichen Verwehungen den Tod zu finden. Irgendwoher aus der Ferne hörte er noch das Schellen von Glöckchen und vor seinen Augen huschte das Bild seiner lächelnden Mutter vorüber. Das war das letzte Zeichen des Bewusstseins, dann fiel Wenzel in die weiße Finsternis. Er merkte nichts davon, dass ihn jemand aufhob, zum Schlitten trug, zu einem schönen Haus brachte und wie ein kleines Kind unter eine Decke legte. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen, und auch nicht, dass er die ganze Zeit um sein Leben gekämpft hatte. Als er endlich aufwachte, sah er an seinem Bett eine alte Frau stehen, die ihm erzählte, dass ihre Tochter Schneeröschen ihn vor dem Tod durch Erfrieren gerettet hatte, als sie ihn halbtot draußen im Schnee gefunden hatte.

Dann fragte die unbekannte Frau Wenzel, wohin er unterwegs sei bei diesem Unwetter, dass es nicht Zeit habe bis zum Frühling. Wenzel wollte nicht lügen, aber die Wahrheit konnte er auch nicht sagen. Langsam wurde ihm bewusst, dass er in eine süße Falle geraten war. Noch mehr erschrak er aber, als ihm die Frau die Geschenke zeigte, die er im unterirdischen Königreich erhalten hatte und ihn frug, wer sie ihm gegeben habe. Zu leugnen hatte keinen Sinn.

„Wer bist du, Herrin?“ frug Wenzel mit müder Stimme und überlegte im Geiste, wie er aus diesem Gefängnis entkommen könnte.

„Ich bin die Eiskönigin und Slawomir, der König der Berggeister, ist mein ärgster Feind, weil er der Herrscher des Feuers und der Wärme ist. Niemals, Bursche, wirst du ihm helfen können, da du aus meinem Haus nie mehr entkommst“, sagte die Eiskönigin mit eisiger Stimme und verließ das Zimmer.

Wenzel war so in traurige Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie ein liebliches Mädchen mit rosigen Wangen in einem leichten, weißen, mit silbrigen Schneeflocken besetzten Kleidchen in sein Zimmer tänzelte. Auf dem Kopf hatte es eine glitzernde, mit winzigen Blüten von Schneeglöckchen geschmückte Diamantenkrone.

„Sei gegrüßt, Wenzel“, sagte sie.

„Wer bist du? Bist du etwa Schneeröschen, die mein Leben gerettet hat?“ frug der Jüngling. „Oh, Schneeröschen, was ist für mich ein Leben ohne die Möglichkeit, meine Aufgabe zu erfüllen?“

„Verzweifle nicht, Wenzel, ich habe dir schon einmal geholfen und ich werde dir auch wieder helfen. Ich weiß um die alte Feindschaft zwischen meiner Mutter und dem König der Berggeister, aber ich bedaure trotzdem die arme Starlene und alle Berggeister. Ich glaube, dass du ihnen helfen kannst. Mir, Wenzel, kannst du vertrauen, ich werde dich nie verraten. Ruhe dich jetzt noch aus und stärke dich mit Schlaf für die weite Reise. Hab keine Angst, ich komme später und helfe dir, aus meiner Mutter Reich zu fliehen.“

Dann ging Schneeröschen ins andere Zimmer zur Mutter. Als die Schneekönigin einnickte, nahm sie ihr vorsichtig die Geschenke des Königs der Bergzwerge weg, die Wenzel gehörten, und lief zurück, ihn zu wecken. Sie setzten sich zusammen in den Schlitten und flogen schnell wie der Wind. Die Pferde stiegen über die Wolken, die Glöckchen schellten und die Reise ging schnell vorwärts.

„Wir müssen uns beeilen, Wenzel, damit wir hinter den Grenzen von Mutters Königreich sind, wenn sie erwacht, sonst wird es uns schlecht ergehen.“

Unter ihnen flogen verschneite Wälder, Felder und Wiesen, vereiste Flüsse und Teiche vorbei. Plötzlich wurde es ringsum wärmer und die Landschaft veränderte sich. Das Gespann schwebte auf die Erde hinab.

„Weiter kann ich nicht mit dir gehen, Wenzel. Die Sonne, die dir gut bekommt, könnte mich vernichten. Ich wünsche dir viel Glück auf deiner Reise. Wir sehen uns wieder. Auf Wiedersehen, Wenzel“, rief Schneeröschen und hob mit ihrem Schlitten zu den Wolken ab.

Eine kleine Weile hörte man das Schellen der Glöckchen und dann wurde es still.

Wenzel brach sofort zur Weiterreise auf. Er hatte Angst, mit seiner Krankheit zu viel kostbare Zeit verloren zu haben. Er ging, des Königs Worte im Gedächtnis, weiter westwärts. Die Landschaft veränderte sich weiter und in Kürze blieb vom Schnee keine Spur. Die Sonne brannte stark und der Himmel war wolkenlos. Die Pflanzen und die Bäume leuchteten in sattem Grün und bunten Blüten, aber auch die Tiere und die Menschen waren anders als zu Hause. Als Wenzel die Vorbeigehenden nach dem Weg frug, schüttelten sie nur unverständig den Kopf. Sie sprachen eine fremde Sprache, die Wenzel nicht verstand.

Erst in einem Rasthof, wo Wenzel für die Nacht anhielt, um sich für den weiteren Weg zu stärken, traf er einen Landsmann. Er war sehr froh, nach so langer Zeit wieder seine Muttersprache zu hören. Der Landsmann war ein Kaufmann. Er hatte viele Wagen mit kostbarer Ware aus Übersee und als er feststellte, wohin des Knaben Weg führte, versprach er, ihn am Morgen zum Hafen zu bringen. Und so geschah es. Am nächsten Tag stand der Junge endlich am Hafen.

Wenzel spazierte am Strand entlang und überlegte, wie er zur Roten Insel gelangen könnte. Auch der Kaufmann erzählte ihm, auf seinen Reisen von solch einer Insel gehört zu haben, aber wo Wenzel sie suchen sollte, wusste er nicht. Wie er sich so ringsum umsah, erblickte er plötzlich unweit am Ufer eine bescheidene Fischerhütte. Entschlossen nahm er die Richtung auf und kam bald zu der kleinen Fischerunterkunft. Aus der Hütte kam ihm ein alter Fischer entgegen, der wohl so manches erlebt hatte. Wenzel grüßte ihn ehrerbietig und der Fischer sprach:

„Sei gegrüßt, Bursche. Woher kommst du? Und wohin des Weges?“

„Ich komme aus Böhmen, Väterchen, aber woher kennen Sie meine Muttersprache?“, wunderte sich Wenzel.

„Lieber Sohn, ich segelte mein ganzes Leben lang über die Meere und traf dabei viele Reisende wie dich. Du möchtest gern zur Roten Insel, nicht wahr? Alle lockt ihr Geheimnis, aber keiner von denen, die zu ihr aufgebrochen sind, kamen je lebend zurück. Es tut mir Leid um dein junges Leben. Wozu soll dir dies vergebliche Abenteuer nützen? Ich weiß, dass die Insel inmitten des weiten Ozeans liegt, aber ich selbst und auch keiner der Schiffskapitäne, unter denen ich gedient habe, haben sich je dorthin gewagt. Ich habe aber meinen Großvater erzählen gehört, wie ihn einmal ein Sturm dorthin verschlug. Die Insel besteht wohl aus einem einzigen Stück Fels von ziegelroter Farbe. Deshalb nennt man sie die Rote Insel. Mitten auf der Insel strahlt angeblich ein kleiner Brunnen, aber woher dieser merkwürdige Schein kam, wusste mein Großvater nicht und forschte auch nicht danach. Er war froh, diesen Sturm lebend überstanden zu haben, und als sich das Meer beruhigt hatte, eilte er nach Hause. Denn dort erwarteten ihn elf hungrige Mäuler.

Was willst du auf der Roten Insel, Bursche, es ist doch eine leere Ödnis. Mit dem Meer bist du nicht vertraut, stammst nicht von hier und kommst noch irgendwo sinnlos um“, beendete der Fischer seine Rede.

Ihr Gespräch hörte aber des Fischers Sohn, der inzwischen aus der Hütte kam:

„Ach lassen Sie, Vater, den mutigen Jungen bei seiner Absicht. Erlauben Sie mir, ihn wenigsten den halben Weg zu begleiten und ihn zu lehren, wie man sich auf dem Meer verhält. Es wird ihm fürwahr nützlich sein, wenn er von so einer Reise gesund und munter zurückkommen soll. Denn nicht einmal ich, der ich am Meeresstrand groß geworden bin, bin jemals so weit hinausgefahren.“

„Ach, die unbändige Jugend, was soll ich nur mit euch machen?“, sprach der alte Fischer. „Heute bereite ich euch alles Nötige für die Reise vor und morgen brichst du mit meinem Sohn auf. Aber bedenke, mein Sohn, dass du Frau, Kinder und einen alten Vater hast, weiter als zur halben Wegstrecke lasse dich mit Wenzel nicht ein. Was sollten wir ohne dich anfangen?“, sagte der Fischer zum Sohn.

Wenzel freute sich in Gedanken, die Reise allein beenden zu können, denn er wollte des Fischers Familie über den wahren Grund seiner Fahrt nicht belügen. Und so bereitete der alte Fischer für den nächsten Morgen zwei Boote vor, in das eine legte er aber für Wenzel mehr Vorräte an Essen und Trinken.

Früh bei Sonnenaufgang stachen sie in See. Das Meer war ruhig, es wehte nur eine sanfte Brise, und so lernte Wenzel schnell das Rudern. Die Reise ging fröhlich voran. Noch am Abend desselben Tages kamen sie zu einer kleinen Insel; hier trennten sich ihre Wege. Wenzel dankte dem jungen Fischer für seine Gefälligkeit und alle seine guten Ratschläge und gab ihm zum Abschied ein paar Silbertaler für seine Familie. Der Fischer wollte das geschenkte Geld nicht annehmen, aber Wenzel legte es auf den Boden seines Schiffchens und stieß es schnell vom Ufer ab.

„Grüße zu Hause!“

„Gute Fahrt!“, rief ihm der Fischer noch zu, da entfernte sich das Boot schon und verschwand in der aufkommenden Dämmerung. Schnell wurde es dunkel, und so entschied sich Wenzel, auf der Insel zu übernachten, um sich in der Dunkelheit auf See nicht zu verirren. Er legte sich am Strand in den weichen, warmen Sand, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Im Kopf schwirrten ihm die verschiedensten Gedanken, er überlegte wie viel Zeit schon vergangen war, er erinnerte sich seiner Mutter und aller seiner Freunde. Wie gern wäre er wieder zu Hause unter den Seinen gewesen!

Plötzlich hörte er in der Dunkelheit eine fremde Stimme und sah unweit das bekannte rote Licht flackern, als wenn es ihm ein Zeichen gäbe. Er stand auf und ging näher. Im Sand lag eine Grubenlampe der Zechenwichte, aber es war niemand da. Die unbekannte Stimme sprach zu ihm:

„Habe keine Angst vor mir, Wenzel, ich bin der Geist der Unterwelt und der Felsen und komme, um dir einen guten Rat zu geben. Auf der nächsten Insel, die du Morgen erreichen wirst, droht dir eine große Gefahr. Iß und trinke dort nichts, sonst fällt der ewige Schlaf über dich und du kehrst nie mehr nach Hause zurück. Du kannst ihr nicht ausweichen, denn du musst von der Herrin dieser Insel etwas vom Schlafpulver bekommen, das du sehr nötig haben wirst, um deine Aufgabe zu erfüllen. Den goldenen Stern auf der Roten Insel bewacht nämlich ein böser Riese. Ohne das Schlafpulver kannst du ihn nicht bezwingen. Falls sich die Herrin der Insel weigern sollte, dir das Pulver zu geben, kannst du ihr ruhig zum Tausch das Schmuckstück von Starlene anbieten. Hab keine Angst, ich gebe der Prinzessin ein anderes Geschenk. Sobald du auf der Roten Insel den goldenen Stern ausgräbst, eile nach Hause, damit dich unterwegs die Eiskönigin nicht überrascht. Sie würde sicher dein Werk gerne vereiteln. Falls dich auf der Insel der Träume doch die Müdigkeit und der Schlaf übermannen sollten, rieche schnell an dieser Blume, sie wird dich beschützen. Mach deine Sache gut, Gott beschütze dich. Auf dem Rückweg werden wir uns noch begegnen.“

Die unbekannte Stimme verstummte und das rote Licht erlosch.

Wenzel dankte und schaute auf die zierliche Blume, die durchdringend duftete und ihn an die Heimat erinnerte: es war Thymian. Vorsichtig steckte er die seltene Blume in die Tasche, legte sich in den Sand und schlief ein.

Am nächsten Morgen, durch den Schlaf erfrischt, setzte er seine Fahrt fort. Und es geschah, wie der Geist der Unterwelt und der Felsen vorhergesagt hatte. Das Schiffchen fuhr wie von einer magischen Kraft angezogen auf eine kleine, entfernte Insel zu. Das Ufer näherte sich rasch und bald sah Wenzel ein wunderschönes Bild vor sich. Über die ganze Insel erstreckte sich ein lieblicher Garten mit Lauben und Säulengängen aus weißem und rosafarbenem Marmor. Von überallher ertönte schmeichelnde Musik und Gesang, die den Wanderer zur süßen Rast einluden. Die Tische bogen sich vor Speis und Trank und ringsum tanzten, sangen und spielten reizende junge Mädchen verschiedene Instrumente. Auf dem Boden, an die Säulen gelehnt, schliefen Wanderer. Wenzel kam sich für eine Weile vor wie im Paradies und hätte, ohne den starken Duft des Thymians, der ihn an seine wahre Sendung erinnerte, seine Aufgabe beinahe vergessen.

Der Knabe spazierte weiter durch den Zaubergarten, bis er eine schöne, weißhaarige Frau sah, die ein Pulver von süßem, betörendem Duft ins Feuer schüttete. Er begriff, dass er die Königin des Traumes vor sich hatte, die er um Hilfe bitten sollte. Die Herrin der Insel wollte zuerst nicht einwilligen, aber als ihr Wenzel zum Tausch Starlenes Schmuckstück anbot, das ihr sehr gefallen hatte, stimmte sie am Ende doch zu und schenkte ihm ein Schächtelchen des begehrten Schlafpulvers.

Sie riet ihm, auf der Roten Insel nicht zu graben, bevor die Sonne unterginge. Dann solle er neben dem Brunnen ein kleines Feuer machen und, falls ihn jemand störte, ein paar Körner des Schlafpulvers in die Flammen werfen, deren Duft jeden Eindringling betäuben und Wenzel in Ruhe arbeiten lassen würde. Zum Abschied sagte ihm die Königin des Traumes:

„Mir gefällt dein Mut, Junge, darum helfe ich dir. Ich weiß, wohin du gehst, ich weiß auch warum, ich weiß auch, warum dich mein Zauberpulver nicht eingeschläfert hat und wer dein Beschützer ist. Du musst mir nichts erklären. Ich werde acht geben, dass dir die Glut des Sternes bei der Arbeit nicht schadet und deine Augen nicht blendet, aber bedenke: wenn du den goldenen Stern ausgräbst, darfst du ihn nicht berühren, sonst verbrennt dich seine Glut zu Asche. Suche also zwei große Muscheln aus Perlmutt. In diese nimm dann den Stern auf und wickle die beiden Perlmuttschalen in dieses seidene Zaubertuch ein. Nur so kannst du den Stern sicher in das unterirdische Reich der Berggeister bringen. Grüße dort alle von mir. Und jetzt gehe, damit du nicht weiter den Schlaf meiner Gäste störst.“

Wenzel verbeugte sich vor der Königin, dankte ihr für ihre Hilfe, stieg ins Boot und fuhr weiter. Er war schon den dritten Tag unterwegs, als er endlich gegen Mittag vor sich in der Ferne die Rote Insel erspähte. Es herrschte Windstille und so erreichte er die Insel erst am Abend. Im Schein der untergehenden Sonne sah er, dass die Insel tatsächlich die Farbe von ziegelrotem, gebranntem Lehm hatte. Es war aber kein Lehm, wie Wenzel später, als er sich auf der Insel umsah, erkannte, sondern ein einziger, harter Fels.

Hier erwartet mich eine mühsame Arbeit, dachte der Knabe, habe ich doch nur das kleine Hämmerchen, das mir Starlene geschenkt hat. Wie soll ich damit den Fels zertrümmern?

Bevor es dämmerte, konnte Wenzel noch neben dem von der Glut des Sterns ausgetrockneten Brunnen eine kleine Feuerstelle anlegen, wie ihm die Königin des Traumes geraten hatte. Da die Insel vollkommen öde war, ging der Knabe zum Ufer, wo er verstreute Stückchen Holz, die das Meer ausgespien hatte, einsammelte. Es waren vor allem die Reste von verunglückten Schiffen, oder von Bäumen von fernen Inseln. Zum Anzünden diente ihm trockener Seetang.

Als die Sonne unterging und der Abend kam, ergoss sich aus dem Brunnen ein blendender, bläulicher Schein. Wenzel machte das Feuer an und ging ans Werk. Der Stern schien so grell, dass er anfangs mit geschlossenen Augen arbeiten musste. Aber er gewöhnte sich bald und spürte die Glut des Sterns nicht mehr. Die Königin des Traumes hielt ihr Versprechen. Der Zauberhammer von Starlene brach den Fels wunderbar leicht. Plötzlich erschien vor ihm der böse Riese:

„Ich vernichte dich, wenn du nicht sofort aufhörst, auf den Grund meines Brunnens einzuschlagen, und mir nicht gleich sagst, was dich auf meine Insel geführt hat!“, tobte der Riese mit seiner Donnerstimme und griff mit seiner riesigen Pranke nach Wenzel. Der aber sprang zur Seite und schüttete, bevor der Riese sich fassen konnte, etwas vom Schlafpulver ins Feuer. Über die Insel breitete sich sofort ein süßer, betörender Duft aus. Wenzel roch schnell an der Blüte des Thymians, die ihn schon einmal vor dem Einschlafen bewahrt hatte. Der Riese wankte wie eine Betrunkener, seine Hand fiel schwer zu Boden, und in Kürze schlief er schon wie ein Toter.

Als Wenzel merkte, dass die Gefahr vorbei war, zögerte er nicht und stürzte sich eifrig wieder in die Arbeit. Zum Sonnenaufgang hatte er schon eine ordentliche Grube ausgehoben, aber bis zum Stern am Grund des ausgetrockneten Brunnens war es immer noch sehr weit. Müde ging er zum Meer und wusch seinen schmerzenden Leib in der kühlenden Brandung. Er legte sich am Strand hin, um sich zum Abend etwas auszuruhen, denn am Tag konnte er ohnehin nicht arbeiten, weil der Hammer seine Zauberkraft verlor. Er lag so eine Weile am Ufer, hörte dem Rauschen der Wellen zu und beobachtete einen Möwenschwarm, der über seinem Kopf kreiste. Er dachte nach, wie er auch diese Nacht den Riesen überlisten und ungestört weiter arbeiten könnte.

Dann entschied er sich, ohne die Hilfe des Zauberhammers auch am Tag zu arbeiten, denn so könnte ihn der Riese bei der Arbeit nicht überraschen. Er arbeitete fleißig für den Rest des Tages, aber der Fels, der sich in der Nacht wie Lebkuchen schneiden ließ, gab am Tag kaum nach, und so gelang es Wenzel bis zum Abend nur ein kleines Stück zu lösen. Müde von der ganztägigen Schinderei, setzte er sich neben den Brunnen und schlief sofort ein. Sobald die letzten Sonnestrahlen verschwunden waren, erschien der Riese wieder am Brunnen:

„Jetzt, du Würmchen, entkommst du mir nicht. Für deine Kühnheit und Dreistigkeit bezahlst du mit deinem Leben. Ich werfe dich den Fischen zum Fraß vor!“

Kaum hatte der Riese zu Ende gesprochen, hob er den schlafenden Wenzel wie eine Feder in die Luft und schmetterte ihn in die schäumende Flut.

Aber Wenzel wurde nicht getötet, wie es sich der Riese gewünscht hatte. Zur selben Zeit schwamm an den Ufern der Roten Insel die Kleine Seenixe vorbei. Sie sah den ertrinkenden Knaben und bemerkte die besonderen Zeichen an seinem Ring. Sie nahm Wenzel zärtlich in die Arme, hüllte sein Haupt in einen durchsichtigen Schleier und brachte ihn in Sicherheit.

Als Wenzel erwachte, sah er, dass ringsum nur Wasser war. Um ihn herum schwammen Schwärme der verschiedensten Fische und der sonderbarsten Meeresbewohner. Es war wie im Märchen. Alles Treiben konnte der Knabe gut beobachten, war aber trotzdem vom Wasser wie durch eine Kristallwand getrennt und konnte frei atmen wie auf dem Trockenen.

Nach einer Weile kam durch die durchsichtige Kristallwand, die ihn von dem Wasserreich trennte, ein schönes Mädchen zu ihm, das mit einem durchscheinend blaugrünen, wallenden Kleid angetan war, das reich mit Perlen geschmückt war. In den Haaren hatte sie einen Kranz aus wunderschönen Meeresblüten, die Wenzel nie zuvor gesehen hatte. Die Kristallwand schloss sich sofort hinter ihr.

„Sei gegrüßt, Wenzel, du musst mich nicht fürchten. Ich weiß, wer du bist und warum du auf die Rote Insel gekommen bist. Die Königin des Traums hat mir von dir erzählt und hat mich gebeten dir zu helfen, falls der böse Riese dein Werk stören sollte. Uns allen tut die arme Prinzessin Starlene und das Reich der Berggeister Leid, sind sie doch, obwohl sie so weit weg leben, auch unsere Freunde. Du wirst jetzt mein Gast sein. Am Tag, wenn dir der Riese nichts antun kann, kannst du nun im Brunnen mit dem Zauberhammer arbeiten und am Abend bringe ich dich immer zu mir in Sicherheit. Aber vergiss nicht, dass du nie länger als bis zum Sonnenuntergang am Brunnen verweilen darfst.“

Und es geschah, wie die Kleine Seenixe gesagt hatte. Wenzel hatte schon einige Tage bei Tageslicht fleißig im Brunnen gegraben. Die Grube reichte ihm beinahe bis zur Brust, aber der Stern war immer noch sehr tief. Die Nächte verbrachte der Knabe im Wasserreich bei der Kleinen Seenixe, die ihm zur Stärkung Schalen mit leckerem Obst, Nüssen und anderen Köstlichkeiten brachte. Die Nixe hatte den braven Wenzel sehr lieb gewonnen und hatte ihn durch das ganze Wasserreich geführt.

„Wie kann ich mich nur für deinen Edelmut und deine Güte erkenntlich zeigen, Kleine Seenixe?“, frug sie Wenzel.

„Es ist nicht nötig, Wenzel, es ist bereits geschehen. Du hilfst Anderen, und ich habe wiederum dir geholfen. Was für Einen schwierig ist, bewältigen Zwei leichter. Man muss nur zusammenhalten, damit ein gutes Werk gelingt. Hilf immer allen, die im Recht sind und deine Hilfe brauchen. Vergiss meine Worte nicht, Wenzel.“

Die Grube im Brunnen wurde immer tiefer und tiefer, aber der Stern zeigte sich immer noch nicht. Eines Tages, als Wenzel die Arbeit für eine Weile unterbrochen hatte, um sich etwas auszuruhen, schaute er hinauf und sah, wie am Himmel Schwärme von Schwalben zogen. Er begriff, dass in seiner Heimat der Herbst angefangen hatte, und dass ihm bis zum Jahresende nicht mehr viel Zeit blieb. So arbeitete er in der Grube länger als sonst, bis er dort am Ende einschlief. Darum hörte er die Warnrufe der Kleinen Seenixe nicht, die dreimal zur Insel kam, um ihn rechtzeitig, bevor die Dunkelheit hereinbrach, in Sicherheit zu bringen.

Über die Landschaft kam die Dämmerung und schon erschien über der Grube das verärgerte Gesicht des Riesen:

„Nun ist aber Schluss, Bürschlein, dein Spielchen ist zu Ende! Jetzt wird dir niemand mehr helfen. Schwer wirst du deine Dreistigkeit büßen. Das Leben wird dir diesmal keiner zurück geben“, grinste der Riese. Er riss einen Felsblock aus dem Berg und war drauf und dran, ihn in die Grube auf den schlafenden Wenzel zu schmettern.

„Das wirst du nicht tun! Lege den Stein sofort nieder! Der Knabe steht unter meinem Schutz!“, donnerte im letzten Augenblick hinter dem Riesen eine strenge Stimme.

„Der Geist der Unterwelt und der Felsen?“, flüsterte der Riese ängstlich. „Wie du befiehlst, oh Herr“, sagte er und seine Hand legte den Stein sachte wieder auf den Boden.

„Du kennst mich also“, donnerte die Stimme erneut. „Um dich für deine Heimtücke und dafür, dass du einem unschuldigen Knaben Schaden zufügen wolltest, zu bestrafen, so befehle ich dir, dass du seine Arbeit hier selbst zu Ende führst. Und wehe dir, wenn du mir nicht gehorchst. Ich hoffe, du hast verstanden!“, schloss die Stimme im drohenden Ton.

Der Riese fluchte wild, hatte aber trotzdem Angst, den Befehl des Geistes der Unterwelt und der Felsen nicht auszuführen. Er trug den schlafenden Wenzel aus der Grube heraus und legte ihn auf einen Fels unweit des Brunnens. Er kroch in die Grube und beendete in kurzer Zeit die Arbeit, die für ihn ein Kinderspiel war. Den goldenen Stern, der ganz unten am Grund strahlte, bedeckte er mit einem mittelgroßen Stein und legte den schlafenden Wenzel vorsichtig wieder in die Grube. Dann schaute er ihn finster an und verschwand.

Als der Knabe morgens erwachte, traute er seinen Augen nicht. Die Grube war viel tiefer als am Vortag, als er seine Arbeit beendet hatte. Am Brunnen erschien die Kleine Seenixe und erzählte Wenzel, was in der Nacht geschehen war. Sie brachte ihm zur Stärkung auch etwas Obst mit und der Junge, erfrischt vom Schlaf, fing wieder an zu arbeiten. Der Stein bröselte und bröckelte ab, bis er in zwei Teile brach und unter ihm Wenzel endlich den goldenen Stern erspähte. Sein Herz hüpfte vor Freude. Er lief hinunter zum Seestrand, diese Freude mit seiner Freundin zu teilen.

„Seenixe, Kleine Seenixe, meine Aufgabe ist erfüllt, endlich kann ich zurück nach Hause!“, rief Wenzel in die Brandung.

Die Kleine Seenixe kam zur Insel geschwommen, stieg ans Ufer und half ihm zwei große Perlmuttmuscheln zu finden. Mit der einen nahm Wenzel den Stern auf und mit der anderen bedeckte er ihn. Dann band er beide Muscheln fest mit dem seidenen Zaubertuch zusammen, wie ihm die Königin des Traumes geraten hatte. Die große Glut des Sternes konnte ihm jetzt nichts mehr anhaben. Er spürte in den Händen nur eine angenehme Wärme. Die Seenixe schenkte ihm für Starlene eine Schnur mit Perlen und Korallen und zur Erinnerung suchte er für sich ein geschliffenes Gläschen aus, aus dem er getrunken hatte, als er ihr Gast war. Dann berührte die Seenixe mit ihrem Schuh sein Boot. Im Nu verwandelte sich sein Schiffchen in ein großes schönes Segelboot mit rosa Segeln und von der See kam eine starke Brise auf.

„Ich danke dir, liebe Freundin“, sagte Wenzel und umarmte zum Abschied innig die Kleine Seenixe, „nie werde ich deine Weisheit und deine Güte vergessen.“

„Steige schnell ein, Wenzel, und eile nach Hause. Es ist höchste Zeit. Gott sei mit dir“, rief ihm die Kleine Seenixe noch nach, aber da flog das Segelboot schon über das Meer. Der Wind war immer gut in den Segeln und nach zwei Tagen landete das Segelboot schon am Festland.

Wie sollte er aber den Weg nach Hause finden? Wenzel erinnerte sich, dass er immer gen Westen gegangen war, als er auf dem Weg zum goldenen Stern gewesen war. Deshalb brach er jetzt nach Osten auf. Er ging und ging, aber er zog nur durch ein unbekanntes Land. Die Zeit verlief schnell. Eines heißen Nachmittags hielt er an einem Fluss an, um vom kühlen Wasser zu trinken und sich zu erfrischen nach der langen Reise. Als er etwas Wasser in sein Glas schöpfte, sah er ein kleines Fischchen im Glas, das ihn mit menschlicher Stimme ansprach:

„Was wünschst du, mein Gebieter?“

Wenzel erstarrte vor Überraschung. Erst jetzt begriff er, was für ein Geschenk ihm die Kleine Seenixe gemacht hatte.

„Ach, Fischchen, wenn du nur den Weg zu mir nach Hause wüsstest.“

„Ich weiß nicht, wo du zu Hause bist, Junge, aber meine Schwestern aus dem großen Fluss werden dir sicher gern helfen. Suche den größten Fluss in dieser Gegend und bitte sie um Rat.“

Er gehorchte dem Fischchen und brach zum großen Fluss auf, um dort Rat einzuholen. Die Fische sagten ihm, in welche Richtung er gehen sollte und auch, dass in seiner Heimat bereits der Winter angebrochen war. Wenzel bedankte sich bei ihnen, umschloss die Muschel fester in seinen Händen und beschleunigte seinen Schritt. Nach drei Tagen erblickte er in der Ferne ihm bekannte Hügel. Endlich war er in seiner Heimat. Als er in das erste Bauernhaus kam, bewirtete ihn die Bäuerin mit Brot und Milch. Er war unter den Seinen. Als er sie nach dem Weg fragte, stellte er fest, dass ihm bis nach Hause noch eine Woche Fußmarsch fehlte. Es war schon Dezember. Es blies ein scharfer, kalter Wind, den Himmel bedeckten dicke Schneewolken, und von der Sonne war nichts zu sehen. In seine Heimat war die Eiskönigin zurückgekehrt. Der Knabe befürchtete, dass sie für ihn auch diesmal eine Falle vorbereitete.

Als Wenzel nur noch drei Tage von Zuhause entfernt war, hielt er am Abend an einem großen Bauernhaus am Hügel. Er klopfte an das Tor, um nach einer Bleibe zu fragen. Es öffnete ihm, ohne ein Wort zur Begrüßung zu sagen, die Bauersfrau. Sie führte ihn in die Stube und enthüllte ihr Gesicht. Mit Bestürzung erkannte Wenzel, dass die Eiskönigin vor ihm stand. Er wollte fliehen, aber das Tor war fest verschlossen.

„Ich habe dir damals gesagt, dass wir uns noch einmal begegnen würden“, sagte die Eiskönigin mit eisiger Stimme, „jetzt lasse ich dich nicht mehr fort. Ich habe dich doch noch besiegt, Wenzel.“

Wenzel erholte sich langsam von seinem Schreck und erinnerte sich des Geschenkes, das er für die Berggeister dabei hatte. Er löste vorsichtig das Seidentuch und öffnete ein wenig die Muscheln. Durch den Raum breitete sich angenehme Wärme und Helligkeit. In dem Augenblick begannen sich die Wände des Bauernhauses aufzulösen und nach kurzer Zeit war das Bauernhaus verschwunden. Der Junge stand in der finsteren Nacht allein da. Die Eiskönigin war gänzlich verschwunden, die Glut des goldenen Sternes hatte sie besiegt.

Da freute sich Wenzel, keinen Hinterhalt der Eiskönigin mehr fürchten zu müssen, und eilte weiter. Die Muscheln mit dem goldenen Stern wärmten angenehm seine Hände und das Licht, durch den Spalt zwischen ihren Rändern entweichend, beschien ihm den Weg. Es fing zu schneien an und der Schnee fiel und fiel, als wenn jemand ein Federbett ausschüttelte. Für Wenzel wurde der Weg durch den frischen Schnee immer beschwerlicher. Er konnte die Beine kaum mehr heben, als er aus der Ferne sich näherndes Klingeln von Glöckchen hörte.

„Schneeröschen, bist du´s?“, rief er ungläubig.

„Ja, ich bin´s, Wenzel, hab keine Angst, wir kommen noch rechtzeitig an. Ich eile dir zu Hilfe. Steige schnell in den Schlitten, solange meine Muter nicht merkt, wo ich bin. Ich bringe dich nach Hause.“

So stieg Wenzel zu Schneeröschen und die Pferde liefen los. Ihre Hufeisen klingelten und die Glöckchen schellten auf der Fahrt.

„Meine Mutter ist dir dafür, was du ihr heute angetan hast, böse, aber ich bin froh, dass du dich bei der schweren Aufgabe bewiesen hast, Wenzel. Bringe den goldenen Stern noch glücklich zu Prinzessin Starlene, damit sie bald ihr Augenlicht zurückgewinnt“, sagte Schneeröschen.

„Du hast ein gutes Herz, Schneeröschen, nun hast du mir schon zum zweiten Mal geholfen. Ohne dich hätte ich meine Aufgabe nie rechtzeitig erfüllen können und all meine Mühe wäre umsonst gewesen. Wie kann ich mich dir erkenntlich zeigen, obwohl ich arm bin und außer einem ehrlichen Dankeswort nichts habe?“

„Bedenke, Wenzel, dass ein ehrliches Dankeswort eine viel größere Belohnung ist als das allergrößte, aber unaufrichtige Geschenk. Gute Taten kann man nicht mit klingender Münze belohnen, sondern nur mit der Stimme des Herzens. Bezahlte Wohltat hört auf, eine zu sein. Aber das hast du schon immer gewusst. Soll dein Herz immer so rein bleiben, wie es war, als ich dir begegnete. Du wirst dann glücklich sein, wenn du auch andere glücklich machst. So, und nun bist du zu Hause, Wenzel. Bleib gesund. Ich wünsche dir viel Glück“, verabschiedete ihn das Mädchen herzlich.

Nach diesen Worten hielt Schneeröschen den Schlitten an, winkte Wenzel noch zum Abschied, der Schnee wirbelte heftig auf und der Schlitten verschwand in der Ferne.

Am Himmel zeigte sich der Vollmond und sein blasses Licht beschien das Heimatdorf. Wenzel schritt ungeduldig zu Mutters Häuschen. Leise klopfte er ans Fenster, aber niemand zeigte sich. Auch der Hund, der ihn immer mit fröhlichem Gebell begrüßt hatte, kam ihm nicht entgegen. Als er bis zum Gartentor kam und überall Stille herrschte, erfasste Wenzel eine böse Ahnung.

Da kam der Nachbar aus dem Nebenhaus und der Knabe sprach ihn an:

„Guten Abend Onkel, ich bin es, Wenzel. Wissen Sie, wo meine Mutter ist? Was ist bei uns geschehen?“

Der Nachbar lud Wenzel zu sich hinein und als sie am Tisch saßen, erzählte er ihm, dass bald nach seinem Aufbruch die Mutter zu Verwandten gezogen war, damit ihr zu Hause nicht traurig zumute wäre. Wenzel aber wusste allzu gut, dass sie in der Gegend keine Verwandten hatten und große Sorgen erfüllten ihn, was mit seiner Mutter geschehen sein mochte. Über Nacht blieb er noch beim guten Nachbarn und am nächsten Tag früh morgens brach er zum Bergwerk auf, dorthin, wo er sich vor einem Jahr vom Zechenwicht Laurentius verabschiedet hatte.

Es war noch dunkel, als er zur bekannten Stelle kam. Er versicherte sich, dass weit und breit kein Mensch war und klopfte vorsichtig mit dem Königsring an den Fels. Die Erde tat sich vor ihm auf und er sah ein paar Stufen, die er hinab schritt. Die Erde über ihm schloss sich wieder und der Gang erhellte sich. Nach einem kurzen Marsch durch den langen Gang erblickte Wenzel einen weiten Raum und unweit vor sich das königliche Schloss. Die Berggeister hatten ihn bereits kommen sehen. Einige kamen ihm fröhlich entgegen, andere eilten mit der freudigen Nachricht zum Schloss. Und so, noch bevor Wenzel zum Schloss gelangte, kamen ihm der König und die Prinzessin entgegen.

„Sei gegrüßt, lieber Freund, und sei unser Gast“, rief König Slawofil ergriffen, umarmte Wenzel und führte ihn in einen feierlich geschmückten Saal. Als der König sich auf dem Thron niedergelassen hatte, sagte Wenzel:

„Ich erfüllte mein Versprechen, Herr König. Ich bringe euch den goldenen Stern, damit euer heiliges Feuer wieder entflamme und das Augenlicht von Prinzessin Starlene zurückkehre. Ich bringe euch aber auch viele Grüße von euren Freunden aus der ganzen Welt, ohne deren Hilfe ich diese schwere Aufgabe nie hätte bewältigen können.“

Nach den Worten entfaltete Wenzel das seidene Tuch und nahm die obere Muschel vom Stern. Licht und Wärme erfüllten den ganzen Raum. Der goldene Stern in der Muschel erstrahlte hell. Wenzel schritt zur Feuerstelle, neigte die Muschel über sie, und der goldene Stern rutschte in die Asche hinein. Sofort schlugen die ersten Flammen des erwachten heiligen Feuers hoch und Prinzessin Starlene rief freudestrahlend:

„Ich kann sehen, Vater, ich kann wieder sehen!“

Ergriffen schaute Wenzel zu, wie sich die Prinzessin an ihren Vater schmiegte, wie glücklich die beiden waren, und seufzte still. Denn auch er hatte sich auf ein Wiedersehen mit der Mutter gefreut, aber sein großer Wunsch hatte sich nicht erfüllt.

Der König Slawofil beobachtete Wenzel eine Weile und sagte dann:

„Warum freust du dich nicht mit uns, Wenzel? Was bedrückt dich? Mein Volk ist dir so sehr dankbar für die Hilfe und mein altes Herz ist voller Freude. Sage nur, was du wünschst, ich werde es ohne Zögern erfüllen.“

„Du irrst, König, dass ich mich nicht über euer Glück freue. Ich bin aufrichtig froh, euch geholfen zu haben. Aber als ich in die Welt aufgebrochen bin, hat mich meine Mutter in Gedanken begleitet und ich habe mich die ganze Zeit darauf gefreut, ihre Stimme wieder zu hören und sie wieder in die Arme zu nehmen. Und als ich endlich glücklich zurückkehrte, fand ich unser Häuschen verlassen. Der Nachbar erzählte, dass meine Mutter angeblich irgendwohin zu Verwandten gegangen sei, aber wir haben hier weit und breit keine Verwandtschaft. Wie soll ich denn nicht traurig sein, wenn mein Kopf voller Sorge um meine Mutter ist?“

„Nun, vielleicht kann ich dir helfen. Vielleicht ist deine Mutter nicht so weit fortgegangen. Du sagtest, irgendwohin zu Verwandten? Und dass ihr keine Verwandtschaft hier in der Gegend habt? Und was ist mit guten Freunden? Hast du denn niemandem Gutes getan, der dir dies nicht dankbar vergelten würde?“

„Bis auf einen kleinen Dienst, den ich ihnen, Herr König, geleistet habe, war ich bisher niemandem nützlich.“

„Wirklich, Wenzel? Schmälere deine Verdienste nicht, auch wenn dich deine Bescheidenheit ehrt. Du bist ein braver Junge, du hast mir Freude gebracht und ich habe dir dafür eine kleine Überraschung vorbereitet.“

Nach diesen Worten klatschte König Slawofil dreimal in die Hände, die Saalwand öffnete sich, und hinter ihr erschien seine Mutter samt dem kleinen Hund Ajax.

„Mutter!“

„Wenzel!“

Da kam Glück und Freude auf, als Wenzel seine Mutter in die Arme schloss! Und dann fingen lange Erzählungen an: die von Wenzel, über die auf seiner Reise erlebten Abenteuer, und die der Mutter darüber, wie die ganze Zeit seiner Abwesenheit die Berggeister im unterirdischen Reich für sie gesorgt hatten. Nur den Nachbarn gegenüber, damit diese sich nicht sorgten, hatte sie behauptet, zu Verwandten zu gehen. Dann übergab Wenzel der Prinzessin die Geschenke der Freunde und gab dem König den geliehenen Ring zurück.

Plötzlich hallte durch den Saal eine Stimme, die Wenzel gut kannte:

„Starlene, bedanke dich bei Wenzel für deine Rettung. Hier wischte ein mutiges Menschenkind eine arglistige Tat menschlichen Verrats weg. Aber du, Starlene, sei das nächste Mal vorsichtiger, beim zweiten Mal wäre dir und eurem Königreich nicht zu helfen. Es hätte wenig gefehlt und ihr alle wäret wegen deiner Unbedachtheit umgekommen. Hier gebe ich dir deinen Schmuck wieder, aber vergiss meine Worte nicht. Glückauf!“

Im Saal entstand eine heilige Stille, die erst nach einer Weile durch des Königs Stimme unterbrochen wurde:

„Hast du gehört, Wenzel, wer dein Beschützer war? Es war der große Geist der Unterwelt und der Felsen selbst. Es ist für dich eine große Ehre. Denn von solch einem Glück ist noch kein Mensch gesegnet worden. Nun ist die Reihe an mir, dich für deine treuen Dienste zu belohnen. Sage, was du willst, ich erfülle dir jeden Wunsch.“

„Ich sage euch die Wahrheit, Herr König. Als ich zum ersten Mal in das unterirdische Königreich gekommen war, wünschte ich mir, dass wenigstens ein bisschen von dem Reichtum mein wäre. Damals habe ich noch gedacht, dass mir dieser Reichtum zum Glück reichen würde. Auf meiner langen Reise gewann ich aber eine andere Überzeugung. Ich habe erkannt, was der Mensch zum wirklichen Glück braucht: Es ist die Liebe zu seinem Nächsten. Gute Wesen, denen ich auf meiner Reise begegnet bin, zeigten mir, worin ich meines und das Glück der Anderen zu suchen habe. Jetzt weiß ich, wie ich meines und das Leben der Anderen glücklich und zufrieden machen kann. Ich werde ihrem Rat gehorchen.

Ich habe deiner Tochter geholfen und du hast während der ganzen Zeit für meine Mutter gesorgt. Wir sind quitt, König. Die Freude über das Wiedersehen mit meiner Mutter ist für mich die größte Belohnung, ich verlange nichts mehr.“

Der König wunderte sich über die Weisheit von Wenzels Worten, laut aber sagte er:

„Also gut, wenn du nicht anders willst. Mir gefällt deine Rede. Wir sind quitt, aber ich lasse dich nicht leer ausgehen. Wenn du zum Manne wirst, Wenzel, grabe auf eurem Feld hinterm Haus. Dort wirst du mein Geschenk finden, eine große Silberader. Nutze sie gut und weise zum Vorteil aller Bergleute in eurem Landstrich. Ich habe dein reines Herz gut kennen gelernt und weiß, dass es das Klingen von Silber nicht verhärtet. Alle meine Untertanen werden dein Bergwerk für alle Zeiten gut beschützen. Und jetzt, Glückauf, Wenzel! Und auf Wiedersehen – irgendwann in deinem neuen Bergwerk.“

Aus dem königlichen Schloss begleiteten sie alle Berggeister. Als sich Wenzel vom König und der Prinzessin verabschiedete, hängte ihm Starlene den Schmuck vom Geist der Unterwelt und der Felsen um den Hals, als Erinnerung daran, dass er ihr das Augenlicht wiedergegeben und ihr somit den größten Schatz geschenkt hatte.

Dann trat Wenzel mit seiner Mutter aus dem Bergwerk hinaus und sie gingen zu ihrem Haus. In der hellen Nacht strahlten über ihnen Tausende von Sternen. Es war wieder der Heilige Abend, und als die feierliche Stimme der Glocke ertönte, brachen sie mit den anderen Nachbarn zur Mitternachtsmesse in die Kirche auf, wo sie im stillen Gebet Gott für ihr Wiedersehen dankten.

Es vergingen ein paar Jahre und aus Wenzel wurde ein stattlicher Mann. Und er tat so, wie ihn der König der Berggeister geheißen hatte. Nach kurzem Graben stieß er an eine starke Ader von reinem Silber, und weil er der Ratschläge seiner Freunde gedachte, blühte seine Mine und die Bergleute waren bei ihm glücklich und zufrieden. Wenzel bemühte sich, so gut er konnte, ihnen ihre Arbeit und ihr Leben zu erleichtern. In seinem Bergwerk ist nie ein Unglück geschehen. Die Berggeister haben ihr Wort gehalten und achteten sorgfältig auf die Mine ihres Freundes.

Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem armen Dorf ein schönes Städtchen, wo alle genug zum Leben hatten und Wenzel war glücklich, wenn er die zufriedenen Gesichter der Bergleute sah. Und so haben sich die Worte von Wenzels beiden Freundinnen, Schneeröschen und der kleinen Seenixe, erfüllt: Es ist die größte Menschenfreude, die Augen der Anderen zum Strahlen zu bringen.

„Wenn eines Anderen Herz sich an deines schmiegt, empfange es mit Freude, vor der Finsternis der Welt wird es dich schützen.“
(Max Dauthendey)

Von Eichen, Veit und dem Königreich des Waldes

MInmitten tiefer Wälder stand auf einer kleinen Lichtung ein hölzernes Forsthaus, in dem der Jäger Herrmann mit seiner Frau Agnes wohnte. Er betreute sorgsam sein Revier, während seine Frau zu Hause wirtschaftete und sich darum kümmerte, dass das Forsthaus immer sauber und gemütlich war. Oft half sie ihrem Mann auch, neue Bäumchen auf den Lichtungen zu pflanzen und im Winter die Futterhäuschen für die Tiere mit Nahrung zu bestücken. Es ging ihnen insgesamt gut. Sie hatten sich gern und sie hatten keine Not, da sie aber keine Kinder hatten, die ihr Leben erfüllt hätten, waren sie doch nicht ganz glücklich. Die Jahre vergingen, sie wurden älter, aber ein Kind bekamen sie nicht. Der Jäger war traurig, dass er das Forsthaus niemandem vererben konnte, und damit auch die so wichtige Arbeit im Wald. Seine Frau ängstigte sich, dass es niemanden geben würde, der nach ihrem Tod mit Liebe das Waldgärtchen umsorgen könnte.

Eines Tages, als Herrmann in seinem Revier unterwegs war, kam er so weit in den Wald hinein, wie er noch nie gewesen war. Da er vom langen Marsch müde war, setzte er sich für eine Weile in das weiche, frische grüne Moos, um sich etwas auszuruhen. Im Wald war es so schön. Überall brodelte das Leben. In den Ästen sprangen flinke Eichhörnchen, über seinem Kopf sangen Vögel, von weit her tönten die Stimme des Eichelhähers und das Klopfen des Spechts. Ein angenehmer Schatten umfing ihn. Der Jäger streckte sich bequemer im Moos aus, beobachtete die wiegenden Baumkronen und die hoch über ihnen ziehenden Wolken. Als wenn die Zeit stillstünde. Während er so den Tönen des Königreichs des Waldes lauschte, schlummerte er ein.

Plötzlich raschelte es im nahen Gestrüpp und der Jäger wachte auf. Die Äste bogen sich auseinander und er erblickte einen wunderschönen stämmigen weißen Rehbock mit blauen Augen, der geradewegs auf ihn zu schritt. Herrmann erstarrte vor Überraschung und setzte im Schreck das Gewehr auf ihn an, da sprach ihn der Rehbock mit menschlicher Stimme an:

„Schieße nicht, Herrmann!“

Der verblüffte Jäger ließ das Gewehr ins Moos fallen.

„Wer bist du, dass du meinen Namen kennst und mit menschlicher Stimme sprichst?“, fragte er.

„Ich kann und darf dir nicht verraten, wer ich wirklich bin, aber ich weiß, was dich und deine Frau bekümmert und will euch helfen. Wenn du mir versprichst, meine Bedingung zu erfüllen, werdet ihr binnen Jahresfrist das Kind bekommen, nach dem ihr euch so lange vergeblich sehnt. Aber antworte mir zuerst, ob du meine Bedingung erfüllen willst.“

Herrmann erkannte, dass der Rehbock Zauberkräfte hatte, und sagte:

„Ich werde alles, worum du mich bittest, gern erfüllen, wenn wir nur ein Kind bekommen.“

Also gut, Herrmann, wir sind uns einig. Binnen Jahresfrist wird euch ein Töchterchen geboren werden. Wenn sie siebzehn Jahre alt wird, bringst du sie zu dieser Stelle, denn ich brauche dringend ihre Hilfe. Sobald sie die Aufgabe, die sie erwartet, erfüllt, kehrt sie zu euch nach Hause zurück und wir alle werden glücklich. Gedenke, Herrmann, was du versprochen hast, denn falls du dein Wort nicht hältst, werde ich deine Tochter finden, egal wo sie ist.“

Nach diesen Worten verschwand der Rehbock mit einem Sprung im dichten Wald. Als der erschöpfte Jäger an diesem Tag nach Hause kam, dachte er zuerst, dass er alles nur geträumt hatte. Seiner Frau Agnes erzählte er nichts von der merkwürdigen Begegnung, hoffte aber insgeheim, dass die Begegnung mit dem weißen Rehbock nicht nur ein bloßer Traum war.

Die Zeit verging schnell, bis der Tag kam, als Herrmann genau vor einem Jahr den weißen Rehbock getroffen hatte. Als er an diesem Abend aus dem Wald nach Hause zurückkehrte, hörte er aus dem Forsthaus Kindergeschrei. Sein Herz machte Sprünge vor Freude. Der weiße Rehbock hatte sein Wort gehalten: es wurde ihnen ein schönes Töchterchen geboren und die glücklichen Eltern, die sich so lange vergeblich nach einem Kind gesehnt hatten, nannten sie Eichen.

Als die Tochter etwas größer wurde, zog Agnes das Mädchen festlich an; auf den Kopf setzte sie ihr eine Mütze mit Bändchen, wickelte sie in eine Decke geschmückt mit Spitzen und sie begaben sich mit Herrmann in die Stadt zur Taufe. Da sie aber in der Einsamkeit im Wald wohnten, hatten sie für ihr Kind niemanden zum Paten. Als sie in die Stadt kamen, schauten sie sich um, wen sie um diesen Dienst bitten könnten. Sie gingen an vielen unbekannten Gesichtern vorbei, bis sie vor der Kirche ein altes Ehepaar sahen, das sie freundlich anlächelte. Sie begrüßten sich und der Jäger klagte ihnen seine Sorge, als die Großmutter sagte:

„Nun, Großvater, wie wär´s, wenn wir dem Kindchen Paten werden?“

„Also komm, Großmutter, sie wird uns im Leben sehr wohl nötig haben“, sagte der Großvater, und sie kamen mit.

Als sie dann mit der getauften Eichen aus der Kirche kamen, sagte die Großmutter:

„Es ist der Brauch, das Kind zur Taufe zu beschenken. Wir sind arm, haben kein Geld und so geben ich und Großvater dir etwas anderes: eine reine Seele, ein gütiges Herz und ein glückliches Leben.“

Auch der Großvater beugte sich über das wimmernde Kind und sagte:

„Und ich, Eichen, werde dein Beschützer, damit du im Leben alles das erreichst, was du gerade von der Großmutter als Patengeschenk bekommen hast.“

Dann verabschiedeten sich die Alten von der Jägerfamilie und verschwanden wie vom Erdboden verschluckt. Herrmann und Agnes zerbrachen sich nicht allzu sehr über die merkwürdige Begegnung den Kopf. Sie waren in Eile, um bis zum Abend mit ihrer Tochter zu Hause zu sein.

Mit Eichen war ein neues Leben ins Forsthaus eingezogen. Sie war ein lustiges und flinkes Mädchen, das schnell wuchs. Das Mädchen verweilte am Liebsten mit der Mutter in der Küche, wo sie mit den Hunden Recke und Hektor spielte und gern den großen flauschigen Kater Achmed neckte. Als sie größer wurde, nahm sie der Vater zu Spaziergängen in den Wald mit und erzählte ihr von seiner Arbeit.

Es war ein braves Mädchen und beide Eltern hatten große Freude an ihr. Bald bemühte sie sich, den Beiden zu helfen.

Die Jahre vergingen schnell und aus dem Mädchen wurde ein Mädel, bildhübsch und schlank wie ein junges Bäumchen im Eichenwald. Sie hatte keine Angst mehr, in den Wald zu gehen, wie früher, als sie klein war. Sie sammelte für die Mutter Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren und Pilze und trug dem Vater das Essen in den Wald.

Einmal, als Eichen in den Wald ging um Erdbeeren zu sammeln, sah sie auf der Lichtung einen schön gewachsenen Jüngling. Zuerst wollte sie die Flucht ergreifen, aber der Jüngling verbeugte sich und sagte:

„Sei gegrüßt, schönes Fräulein. Ich heiße Veit. Ich habe mich verlaufen, sage mir bitte, wie ich den Weg in die Stadt finde.“

„Mich nennen sie Eichen. Ich bin hier im Wald aufgewachsen und in der Stadt bin ich nie gewesen, außer vielleicht bei der Taufe. Wenn du willst, komm mit mir zum Forsthaus. Mein Vater wird dir den Weg zeigen.“

Der Jüngling stimmte gern zu und so brachen sie zusammen zum Forsthaus auf. Eichens Mutter nahm den lieben Gast freudig auf und bereitete ihm ein gutes Essen. Fürwahr hatte Veit nach seiner Reise im Wald einen Bärenhunger. Als später der Jäger nach Hause zurückkehrte, erzählte ihnen Veit von seinen Reisen durch fremde Länder. Der mutige Bursche gefiel Herrmann und der forderte ihn auf, das Wandern durch fremde Länder zu beenden und bei ihnen zu bleiben. Veit gefiel die Tochter des Jägers gleich vom ersten Augenblick an und so sagte er zu, gleich zurückzukommen, wenn er in der Stadt seine Geschäfte erledigt haben würde. Danach verabschiedeten sich alle von ihm, und damit er sich nicht wieder verirrte, begleitete ihn der Jäger bis zum Weg in die Stadt.

Herrmann freute sich, bei der Arbeit im Wald endlich einen geschickten Gefährten zu haben, wenn ihm schon das Schicksal einen Sohn verweigert hatte. Nach ein paar Tagen kehrte Veit tatsächlich aus der Stadt zurück ins Forsthaus. Wegen seines lieben und herzlichen Wesens hatten ihn alle bald lieb gewonnen und in die Familie aufgenommen, und Veit vergalt ihnen ihre Liebe. In allen Dingen versuchte er ihnen zu helfen und brachte Eichen aus dem Wald immer eine Kleinigkeit mit. Am Abend saßen sie zusammen im Garten unter der alten Linde und erzählten sich, was alles während des Tages geschehen war.

So lebten sie im Forsthaus mehr als ein Jahr glücklich und zufrieden zusammen, als eines Abends ein Eilboote aus der Stadt mit der Nachricht kam, dass Veits Mutter schwer erkrankt war. Der Jüngling wurde sehr traurig. Er wusste, dass er Eichen, die er über alles lieb gewonnen hatte, ihre Eltern, die ihn wie ihren eigenen Sohn aufgenommen hatten, und das ganze Königreich des Waldes, das ihm in dem einem Jahr fest ans Herz gewachsen war, verlassen musste. Er ging zu den Jägersleuten hinaus in den Garten, um ihnen die traurige Nachricht mitzuteilen.

Bevor sich Veit von Eichen verabschiedete, fragte er sie, ob sie seine Frau werden wolle. Eichen stimmte mit erröteten Wangen zu, denn es war auch ihr großer Wunsch, sie liebte Veit ja auch. Beide jungen Leute fielen sich in die Arme und waren wenigstens für einen Augenblick glücklich. Auch die alten Eltern freuten sich, dass sie einen so braven und arbeitsamen Schwiegersohn bekommen würden. Veit bat sie noch, sich um seine Braut gut zu kümmern, bis er zu ihnen zurückkäme. Er versprach, dass er Eichen holen werde, sobald seine Mutter gesund würde, und eine große Hochzeit gefeiert werden würde. Er verabschiedete sich von ihnen und brach auf.

Im Forsthaus wurde es nach seiner Abreise leer und traurig. Eichen saß am Fenster und dachte an Veit und ob er bald zurückkäme. Ihre Mutter und ihr Vater vermissten auch die hilfreiche Hand und das freundliche Wort des lieben Gefährten. In Trauer über Veits Weggang vergaß Herrmann ganz und gar das Versprechen, dass er vor Jahren dem weißen Rehbock gegeben hatte. Seit ihrer Begegnung waren gerade siebzehn Jahre vergangen und für die Eltern kam die Zeit des Abschieds auch von der geliebten Tochter.

An diesem Tag wartete der Jäger vergeblich, dass ihm Eichen das Mittagessen in den Wald bringen würde. Das Mädchen kam auch bis zum späten Nachmittag nicht. Herrmann rief nach ihr und suchte sie vergeblich. Im Forsthaus war sie auch nicht. Seine Frau sagte ihm, dass sie lange vor dem Mittag mit dem Essen zu ihm in den Wald gegangen war. Erst jetzt erinnerte sich der Jäger an die alte Begegnung im Wald und erzählte seiner Frau die Wahrheit darüber, was damals geschehen war und dass er in seiner Trauer das Versprechen vergessen hatte. Die Eltern suchten die geliebte Tochter im Wald eine ganze Woche, aber Eichen war wie vom Erdboden verschluckt.

Als Veit nach ein paar Wochen mit der freudigen Nachricht, dass es seiner Mutter besser gehe und alle bei ihm zu Hause sich freuten seine Braut zu begrüßen, ins Forsthaus kam, konnte er das Unglück, das des Jägers Familie traf, nicht glauben. Sein Herz schmerzte vor Trauer, aber seine Fassung verlor er trotzdem nicht.

„Sorgt euch nicht, liebe Eltern, ich werde Eichen finden auch wenn ich bis ans Ende der Welt gehen sollte. Ich schrecke vor keinen Hindernissen und keinen Gefahren zurück. Nichts wird mich aufhalten. Ich befreie Eichen und bringe sie zurück. Ihr werdet sehen, dass wir bald wieder Alle beisammen sein werden.“

Dann verabschiedete sich Veit von Eichens Eltern und brach auf, seine Braut zu suchen.

Herrmann hatte sich nicht geirrt, als er vermutete, dass der weiße Rehbock das Mädel entführt hätte. Dieser fand Eichen bei einer Waldlichtung, als sie ihrem Vater das Mittagessen bringen wollte. Als ihn das Mädel sah, wollte sie sofort die Flucht ergreifen. Denn einen weißen Rehbock mit blauen Augen wie der Frühlingshimmel hatte sie im Wald noch nie gesehen. Als er sie dann mit menschlicher Stimme ansprach, blieb sie stehen wie angewurzelt.

„Fürchte dich nicht, Eichen, ich tue dir nichts. Komm mit mir, es wird zu deinem und zum Wohl von uns Allen sein. Jemand wartet schon lange sehnsüchtig auf dich.“

Der Rehbock bat sie so traurig und so innig, dass sich seiner auch ein Eisblock erbarmt hätte. In dem Augenblick erinnerte sich Eichen an Veit und ihr Herz sprang vor Freude. Er ist es vielleicht, der auf mich wartet!

Die Sehnsucht nach dem Wiedersehen mit einem geliebten Menschen, überwand die Angst, das Mädel bekreuzigte sich und schritt entschlossen hinter dem Rehbock her.

Nach einem langen ermüdenden Marsch durch den Wald waren sie bis an einen Anger gelangt, in dessen Mitte ein gewaltiger, dicht belaubter, des Alters wegen hohler Ahorn stand, dessen ausladende Äste Eichen an bittend zum Himmel empor gestreckte Hände erinnerten. Eichen überfiel eine unbekannte Beklommenheit. Der weiße Rehbock hielt an, klopfte dreimal an den Ahorn, wobei sich dieser vor ihnen öffnete. Der Rehbock forderte das Mädel auf, ihm zu folgen. Und sie traten in den Baum hinein. Ein schmaler hölzerner Gang erweiterte und hellte sich langsam auf, bis sie auf eine weite, hell erleuchtete und von unzähligen Blüten übersäte Wiese kamen. Der Schein aber kam nicht von der Sonne, sondern von der goldenen Kuppel eines wunderschönen Schlosses, das sich in der Ferne auf einem Berg empor streckte. Zu diesem Schloss schlug der weiße Rehbock den Weg ein. Das Tor öffnete sich vor ihnen wie von selbst und der weiße Rehbock lief fröhlich, als wäre er hier zu Hause, in den Schlosshof hinein. Eichen war ihm verdutzt gefolgt. Er führte sie durch die Schlossgemächer bis er in dem herrlichsten von allen anhielt, wo sie ein weißes Reh mit traurigen freundlichen Augen, die so blau waren wie zwei Leberblümchen, erwartete. Ringsum aber gab es keine Menschenseele. In Eichens Augen traten die Tränen, da aber sprach der weiße Rehbock wieder:

„Sei bei uns gegrüßt, Eichen, hab keine Angst, niemand hier wird dir etwas antun. Seit Jahren warten wir sehnsüchtig, dass du uns von einem bösen Fluch befreist. Ich musste dich selber holen, denn dein Vater hatte sein Versprechen vergessen. Wenn du hier mit uns ein Jahr lang bleibst und meinem Rat folgst, wirst du vielen unschuldigen Menschen eine große Hilfe sein. Ich möchte gern, dass du dich hier wie zu Hause fühlst. Es wird für dich gut gesorgt werden, aber gedenke, du darfst die grüne Insel, die aus dem See hinter dem Garten ragt, nie betreten. Mich wirst du ein ganzes Jahr lang nicht erblicken und auch keinen anderen, der mit dir sprechen könnte. Es wird niemanden geben, der dich vor der mächtigen Verlockung menschlicher Neugier warnen könnte. Du kannst uns nur retten, wenn du deiner Versuchung widerstehst. Sage mir, willst du dich für uns dieser Prüfung stellen?“

„Ja“, sagte Eichen entschlossen. In dem Augenblick ahnte sie noch nicht, welch schwierige Aufgabe sie auf sich nahm.

Der weiße Rehbock und das Reh verschwanden und das Mädel vereinsamte im Schloss. Sie brach in Tränen aus. Als die letzte Träne versiegte und Eichen sich etwas beruhigte, fing sie an, das Schloss und seine Umgebung zu besichtigen. Aber -0 es war eine seltsame Sache. Überall herrschte eine traurige, sehr traurige Stille. Die Vögel flogen in den Baumkronen, sangen aber nicht, ein Bach floss über die Steine, rauschte aber nicht, der Wind spielte mit den Blättern der Bäume, aber auch sie raschelten nicht. Eichen begegnete auf ihren Spaziergängen auch verschiedenen Tieren, aber keines gab einen Ton von sich. Wie traurig war diese Gegend! Eichen war nicht zum singen zu Mute und oft befiel sie Beklommenheit. Um sich die Zeit zu vertreiben, sorgte sie sich um die Blumenbeete, sammelte im Garten wohlschmeckendes Obst, las in der Schlossbibliothek Bücher und stickte mit goldenen Fäden Bilder, in denen Ihre Erinnerungen an Veit, die Mutter und den Vater verborgen waren. Jedes Mal, wenn sie Hunger oder Durst hatte, ging sie in den Speisesaal, wo für sie immer viele ausgesuchte Speisen und Getränke vorbereitet waren. Niemals aber hat sie jemanden im Schloss erblickt.

Die Zeit floss langsam dahin. Es war schon ein halbes Jahr her, seit Eichen in das verwunschene Königreich gekommen war. Einmal kam das Mädel bei einem Spaziergang bis zu der weißen Gartenmauer, von der man gut auf den See und die kleine grüne Insel sehen konnte. Rechtzeitig erinnerte sie sich aber der warnenden Worte des weißen Rehbocks und erwehrte sich ihrer Versuchung. Seit der Zeit fand sie jedoch keine Ruhe mehr. Die Insel lockte sie mit ihrem Geheimnis unaufhaltsam an.

Schon hundert Mal hatte sie der Versuchung widerstanden, aber eines Tages siegte doch die menschliche Neugier: Eichen nahm die Klinke des reich verzierten Gartentors in die Hand, das sich vor ihr, wie zum Eintritt einladend, öffnete. So ging sie zum See, um die Insel wenigstens aus der Ferne zu betrachten.

Als sie bis zum Seeufer kam, erschien vor ihr ein kleines Schiffchen. Eichen stieg ein und das Schiff schoss wie ein Pfeil zur Insel hinüber. Im nächsten Augenblick landete sie schon am Ufer. Wie groß aber war Eichens Enttäuschung! Als sie ans Ufer trat, erblickte sie nichts anderes, als das, was sie tagtäglich um das Schloss herum sah. Wiesen mit Blumen, hohe Bäume und im Hintergrund erschien ein dunkler Wald. Da kam aus dem Wald der weiße Rehbock und hinter ihm seine Gefährtin angelaufen. Sie liefen gerade aus zu Eichen:

„Sei gegrüßt, Eichen“, sprach der Rehbock, „Schade, jammerschade, dass du meiner Mahnung nicht zu folgen vermochtest. Es fehlte nur ein kleines bisschen und wir alle hätten frei sein können.“

Wie tief traurig klang seine Stimme. In ihr war kein Vorwurf zu hören, nur ein unermesslicher menschlicher Schmerz. Eichen wollte ihn so sehr um Verzeihung bitten. In dem Augenblick kreiste über ihr ein schwarzer Geier und pickte sie mit scharfem Schnabel in den Kopf. Eichen verwandelte sich in einen kleinen Hasen, der hinter dem weißen Rehbock in den nahen Wald hoppelte.

Inzwischen irrte Veit vergeblich durch tiefe Wälder. Unterwegs traf er Jäger, Holzfäller, Köhler, Einsiedler und alle fragte er, ob sie nicht wissen, wo er Eichen suchen könnte. Keiner von ihnen aber war seiner Braut begegnet. Bis er einmal, müde von langem Wandern, zum Übernachten in eine kleine Hütte am Waldrand einkehrte. Es begrüßte ihn ein alter freundlicher Greis, dessen langer, weißer Bart im Mondlicht wie echtes Silber erstrahlte. In der Hütte dann lud die Großmutter Veit an den Tisch ein. Sie schöpfte ihm einen Teller voll duftender Pilzsuppe und schnitt ihm eine große Brotscheibe ab. Denn nach seiner Reise hatte er einen Riesenhunger. Der Großvater brachte inzwischen von der Quelle am Brunnen einen Krug voll mit frischem, kühlem Wasser und der erschöpfte Jüngling war ihnen für ihre Gastfreundschaft sehr dankbar.

Als sie zu Ende gegessen hatten, fragte ihn der Greis, warum er so lange durch die Gegend wanderte und was ihn bis in diese Einöde geführt hatte. Veit begriff, dass er ehrliche Seelen vor sich hatte, und so vertraute ihnen sein Geheimnis an. Die beiden Alten hörten Veits Erzählung aufmerksam zu. Veit kam es die ganze Zeit vor, als ob sie seine Braut kannten und über Eichens trauriges Schicksal sehr traurig wären. Aus Veits Worten erkannten die Alten, dass der Jüngling Eichen und ihre Eltern ehrlich liebte, dass er ein gutes Herz hatte und bereit war, sich jeglicher Gefahr zu stellen, nur um das Mädel zu befreien und den unglücklichen Eltern zurück zu geben.

Da sagte der Greis:

„Lieber Veit! Ich und die Großmutter kennen deine Braut sehr gut. Waren wir doch ihre Paten. Bei der Taufe haben wir versprochen, ihr das ganze Leben behilflich zu sein. Deine Eichen ist jetzt im verwunschenen Königreich, weit weg von hier. Befreien kannst du sie nicht, denn die böse Hexe hat sie in ein Häschen verwandelt und bewacht selbst sorgsam den Eingang zum verwunschenen Reich. Verzweifle aber nicht, ich werde dir helfen. Nimm diese Nuss hier. Welchen Wunsch du auch aussprichst, die Nuss wird ihn dir erfüllen. Und ich gebe dir noch einen guten Rat. Wenn du zum alten hohlen Ahorn kommst, der den Eingang zum verwunschenen Königreich birgt, warte bis zum Vollmond, denn nur in dieser Nacht kannst du unbemerkt in den Baum treten.

Bei jedem Vollmond kommt der weiße Rehbock in den Schlosssee zum Baden und die Hexe bewacht jede seiner Bewegungen. An diesem Abend musst du versuchen, ihn zu retten. Wenn es dir gelingt, befreist du damit auch Eichen und das ganze verwunschene Königreich.

Die Hexe nimmt zu der Zeit die Gestalt eines schwarzen Geiers an, sie fliegt dem Rehbock während seines Bades unmittelbar über dem Kopf und wacht darüber, dass er ihr nicht entwischt. Wenn es dir gelingt, mit nur einem Schuss den Geier zu erschießen, und zwar so, dass der erste Tropfen seines schwarzen Blutes unmittelbar auf des Rehbocks weißes Haupt fällt, erlischt der böse Zauber und alle werden wieder frei.“

„Ich bin ein guter Schütze, Großvater, es wird mir sicher gelingen“, sagte Veit entschlossen.

„Nicht so hurtig, Bursche, ohne meine Hilfe würdest du den Geier nie treffen, du weißt doch bereits, wer sich hinter den schwarzen Federn verbirgt“, sagte der Greis und nahm Veits Gewehr in die Hände. Er schüttete ein Zauberpulver in das Feuer und hielt das Gewehr eine Weile im duftenden Rauch. Dann flüsterte er drei Zauberworte und reichte es dem Jüngling zurück.

„Jetzt hat deine Waffe eine Zauberkraft. Welches Ziel auch immer du wählst, du wirst es nicht verfehlen. Sobald der Geier über dem Kopf des weißen Rehbocks kreist, ziele gut. Dann zögere nicht und schieße! Gedenke, dass du nur einmal schießen kannst, sonst ist alles verloren.

Jetzt weißt du alles, was nötig ist. Ruhe dich heute Abend noch gut aus und stärke dich für die Reise mit ausgiebigem Schlaf. Gleich Morgen früh musst du aufbrechen. Bis zum Vollmond bleibt dir nicht allzu viel Zeit. Gute Nacht, Veit!“

Der Jüngling gehorchte, streckte sich mit Genuss in die weichen Daunenbetten aus und schlief im Nu wie ein Toter.

Als Veit am frühen Morgen aufwachte, fühlte er sich nach langer Zeit wieder frisch und munter. Er frühstückte eine Brotschnitte mit Waldhonig und trank dazu einen Becher frischer Ziegenmilch. Dann verabschiedete er sich von den beiden Alten, dankte ihnen wärmstens für ihre Hilfe und brach mit neuer Lust seine Weiterreise an. Wie er so ging, erinnerte er sich, was ihm der Greis über die Nuss erzählt hatte. Um ihre Zauberkraft zu erproben, klopfte er darauf und sprach seinen Wunsch aus:

„Pferdchen, springe aus der Nuss heraus und bringe mich zum verwunschenen Königreich.“

Kaum dass er zu Ende gesprochen hatte, da stand vor ihm ein schöner Apfelschimmel, die Beine wie Saiten, der ungeduldig mit den Hufen am Boden scharrte. Veit sprang in den Sattel, gab dem Schimmel die Sporen und der galoppierte los. Sie jagten schneller als der Wind durch den Wald und die Reise ging fröhlich vorwärts. Es war ein heißer Sommertag. Ringsum duftete das warme Harz, die Vögel sangen über ihren Köpfen, und durch das Geäst schimmerte das klare Blau des Himmels.

Sie ritten und ritten, der Wald wurde dichter und die Gegend veränderte sich. Der Nadelwald ging allmählich in Laubwald über, und gegen Abend hielt der Apfelschimmel endlich an einem von der untergehenden Sonne bestrahlten Anger an, vor einem uralten, hohlen Ahorn mit riesiger, belaubter Krone, in der fröhlich die Vögel sangen. Der Schimmel wieherte und berührte mit dem Huf seine Rinde, zum Zeichen, dass sie an Ort und Stelle angekommen waren. Veit bedankte sich für den guten Dienst bei ihm und sagte:

„Pferdchen, zurück in die Nuss“, und der Apfelschimmel verschwand.

Langsam wurde es dunkler. Die Vögel wurden still, der Wald legte sich nach einem umtriebigen Tag schlafen. Es brach eine warme, helle Sommernacht an und am Himmel ging langsam der Vollmond auf. Als sich sein Schein über dem Wald voll entfaltet hatte, bekreuzigte sich Veit, klopfte dann mit der Nuss auf die Rinde des Ahorns und sagte:

„Es öffne sich mir sofort der Weg zum verwunschenen Königreich.“

In dem Augenblick trat der Baum auseinander. Veit eilte durch den hölzernen Gang, lief durch den blühenden Garten hindurch, ging achtlos am Schloss vorbei, aber den See sah er nicht. Schnell lief er also zum schönen geschmiedeten Tor mitten in der weißen Wand, die von allen Seiten den Schlossgarten umgab. Als er zum Tor kam, erblickte er endlich den malerischen See, in dessen Mitte eine kleine grüne Insel war, hinter der ein dunkler Wald schimmerte. Ungeduldig drückte er die Klinke, aber das Tor bewegte sich nicht. Da erinnerte er sich an das Geschenk des Großvaters, zog schnell die Nuss aus der Tasche und berührte damit das alte rostige Schloss. Der Weg wurde frei.

Zum See kam er gerade rechtzeitig. Der weiße Rehbock und seine Gefährtin stiegen gerade ins Wasser, als über seinem Kopf ein großer schwarzer Geier erschien. Veit hob das Gewehr, zielte kurz und drückte dann den Abzug. Ein Schuss fiel und das Zaubergeschoss verfehlte sein Ziel nicht. Ein tropfen Blut fiel auf des Rehbocks Haupt wie schwarzes Pech.

Die Erde erzitterte, das Wasser im See fing an zu sieden und schoss in die Höhe. Das Licht ringsum erlosch und ein starker Wind brauste auf, der die Bäume wie Streichhölzer zu Boden drückte. Die Vögel flogen entsetzt in die Luft und Veit fühlte, wie sich alles mit ihm drehte und ihn eine unbekannte, bedrohliche Schwäche übermannte. Sein Bewusstsein schwand schnell, bis er völlig entkräftet ins Gras fiel.

Als er erwachte, schaute er sich verwundert um und wusste nicht, wo er war. Er lag in einem schneeweißen Bett und über ihm hing ein rosafarbener, samtener, mit Gold bestickter Baldachin. An seinem Bett stand Eichen, hielt ihm die Hand und dankte ihm für ihre Befreiung. Nach der freudigen Begrüßung erzählte sie ihm alles, was geschehen war und versprach ihm, dass sie im Leben nie mehr zu neugierig sein würde. Im Gegenzug erzählte ihr Veit von seiner Begegnung mit ihren Paten, ohne deren Hilfe er sie nicht hätte retten können. Die beiden jungen Leute waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wann der junge König und die Königin in das Gemach kamen. Beide traten zu Veit und Eichen und dankten ihnen für ihre Errettung. Dann erzählte ihnen der König, warum sie die böse Hexe so sehr gehasst und verfolgt hatte.

Vor langer, langer Zeit hatte des Königs Vater seinen Sohn der königlichen Tochter aus einem benachbarten Königreich zum Bräutigam versprochen. Damals wusste er aber noch nicht, dass die Königin des benachbarten Reiches auch eine mächtige und listige Hexe war. Als dann sein Sohn ihre böse und grausame Eigenart aufdeckte, lehnte er es ab, ihre Tochter zur Frau zu nehmen. Er löste des Vaters Versprechen und heiratete die Tochter eines treuen Ratgebers und Freundes seines Vaters. Sobald dies aber die böse Hexe erfahren hatte, verwandelte sie den jungen König in einen weißen Rehbock, seine schöne Frau in ein weißes Reh und alle seine Untertanen in Vögel und Kleintier. Sie sollten im unterirdischen Königreich so lange warten, bis sie ein unschuldiges Mädchen befreite, das für ihre Rettung freiwillig eine große Prüfung auf sich nähme.

Die Jahre gingen vorbei, aber niemand kam. Einmal gelang es dem König in Gestalt eines weißen Rehbocks doch, für einen Augenblick aus dem unterirdischen Gefängnis zu flüchten, und da begegnete er Eichens Vater. Als seit ihrer Begegnung siebzehn Jahre vergangen waren und er sah, dass Herrmann das gegebene Versprechen vergessen hatte, gelang es dem weißen Rehbock zum zweiten Mal, die Hexe zu täuschen, und er suchte Eichen selbst auf. Nach ihrer Ankunft im Königreich freuten sich alle, dass sie endlich aus der Verwandlung befreit würden. Sie rechneten aber nicht mit Eichens großer Neugier. Ohne Veits Heldentum hätte es für sie nie mehr eine Rettung gegeben.

Der König beendete seine Erzählung und alle Anwesenden ließen Veit hochleben. Dann nahmen sie Platz an der Festtafel. Die Tische bogen sich nur so vor ausgesuchter Speise, Trank und Früchten. Alle waren sie wieder glücklich und frei. Im ganzen Land wurde zu Veits Ehren gefeiert, aber der bescheidene Jüngling wartete nur auf den Augenblick, in dem er mit Eichen die Heimreise antreten konnte. Als der König sah, dass das junge Paar keine Ruhe hatte, beschwor er sie nicht, noch länger zu bleiben. Er beschenkte sie reich und ließ für sie eine Kutsche, die von einem Paar Schimmel gezogen wurde, vorbereiten. Endlich stiegen Veit und Eichen zusammen in die Kutsche und brachen, begleitet von vielen Grüßen und Dankesworten, nach Hause auf.

Eichens Eltern hatten den Verlust der geliebten Tochter und des künftigen Schwiegersohns bereits verschmerzt, der ebenso von seiner Reise nicht zurückgekehrt war. Eines Abends saßen sie zusammen im Garten und erinnerten sich ihres verlorenen Glücks, als plötzlich auf dem Weg Räder ratterten und im nächsten Augenblick vor dem Forsthaus eine wunderschöne goldene Kutsche anhielt und Veit und Eichen herausstiegen.

„Liebe Kinder, wie lange haben wir auf euch gewartet“, sagte die Mutter, die sie zur Begrüßung umarmte. Die Freude am Wiedersehen nahm kein Ende, denn die alten Eltern hatten nicht mehr geglaubt, ihre Tochter je lebend zu sehen. Mit Tränen in den Augen dankten sie Veit für ihre Rettung. Dann erzählten und erzählten sie.

Am nächsten Tag, als sie sich von der Reise erholt hatten, sagte Veit, dass es an der Zeit sei, dass jetzt alle gemeinsam auch seine Eltern besuchten und beglückten. Agnes und Herrmann weigerten sich zuerst, in die Hauptstadt zu fahren, denn so weit waren sie noch nie gewesen, aber Veit ließ es nicht anders zu. Er setzte sie in die Kutsche und sie fuhren los. Als sie aus dem Wald kamen, der ihre Heimat war, fuhren sie an Dörfern, Städten und Wiesen vorbei bis sie in die Hauptstadt des ganzen Königreiches kamen. Eichens Eltern betrachteten mit Staunen alle die Herrlichkeit: prächtige, große Häuser, malerische Plätze mit hohen Kirchen, die städtischen Parks und Promenaden gerahmt von duftenden Blumenbeeten. Das war etwas für Eichens Mutter! Aber die größte Überraschung erwartete sie noch. Die Kutsche fuhr durch die Stadt zum königlichen Schloss.

Als sie im Vorhof angehalten hatten und ausgestiegen waren, verbeugten sich alle Bediensteten und erwiesen ihnen die Ehre. Lakaien in festlichen, mit Gold bestickten Livreen führten sie durch viele Gänge und Gemächer bis in einen herrlichen Saal, wo auf dem goldenen Thron der alte König Karl saß, auf dessen Haupt eine goldene, mit glitzernden Diamanten besetzte Krone strahlte. An seiner Seite saß die Königin Anne, Veits Mutter. Als Veits Eltern die festlichen Fanfaren hörten, die seine Rückkehr angekündigt hatten, und ihn mit Eichens Familie kommen sahen, erholten sich ihre Herzen in großer Freude. Beide eilten sie ihnen entgegen und begrüßten sie alle herzlich. Eichen jedoch überschütteten sie mit Liebe und Herzlichkeit wie die eigene Tochter. Erst jetzt erfuhren Eichens Eltern, dass Veit ein Königssohn war.

Bald fand im Schloss eine rauschende Hochzeit statt, zu der auch Eichens Paten und das Königspaar aus dem befreiten Königreich eingeladen waren.

Als das überlange Hochzeitstreiben zu Ende gegangen war, verabschiedeten sich Veit und Eichen von den königlichen Eltern. Veit überließ das herrschen dem jüngerem Königssohn und kehrte mit Eichen und ihren Eltern ins alte Forsthaus zurück, das ihm zusammen mit dem Waldreich und seinen Bewohnern so sehr ans Herz gewachsen war. Seine Entscheidung war richtig, denn auch das Königreich des Waldes musste jemand verwalten und schützen.

Und so lebten sie zusammen lange Jahre glücklich und zufrieden. Oft hatten der Patenonkel und die Patentante das Forsthaus besucht, um mit der Familie die Taufe des nächsten Kindes zu feiern. Kinder sind Gottes Segen, sie wissen doch!

„Die Freiheit ist nichts Anderes als die Chance, besser zu sein.“
(Albert Camus)

Von Dalibor, der Fee Eline und der Freiheit

Am Fuße einer mächtigen Bergkette war vor langer Zeit einmal ein kleines Land. Das Land grenzte an ein großes, mächtiges Königreich, wo der grausame König Erik herrschte. Lange Jahre überlegte Erik, wie er das Nachbarland unterjochen könnte. Er wusste allzu gut, dass das Volk mutig und tapfer war und dass er mit Kriegen nichts ausrichten konnte. Und so begann er sein Land mit List zu vergrößern. Er sandte aus seinem Land Untertanen und reiche Händler, die er hieß, sich im Nachbarland für immer niederzulassen. Zusammen mit diesen Einwanderern strömte eine fremde Sprache in das kleine Land, die das einfache Volk nicht verstand, und mit ihr auch andere Bräuche. Die reichen Einwanderer boten den Einheimischen Arbeit bei sich und belohnten sie reich dafür. Wer mochte nicht viel Geld verdienen! Und so geschah es, dass die Menschen des kleinen Volkes bereits nach kurzer Zeit begannen, ihre Muttersprache zu vergessen. Die neue Sprache der Fremden, die in ihren Ohren nicht lieblich klang, lernten sie nicht richtig, und ihre eigene beherrschten sie auch nicht mehr. Sie wurden immer schweigsamer. Sie hatten zwar genug Geld, aber sie verloren ihre Lieder, ihre Freiheit und mit ihr zusammen auch die Lebensfreude. Erik hatte gesiegt, ohne das Schwert zu heben.

Am Ende eines Weilers, fast am Waldrand, lebte in einer kleinen, sauberen Hütte ein altes Kräutermännchen. Vom Alter war es schon ganz gebeugt, trotzdem hatte der Blick seiner freundlichen blauen Augen, die in seinem faltigen Gesicht wie zwei Diamanten strahlten, den Funken nicht verloren. Vom Frühling bis in den Herbst ging der Großvater in Wald und Wiesen, um verschiedene Heilkräuter und Wurzeln und auch Waldfrüchte und Pilze zu suchen. Diese tauschte er dann bei den Nachbarn für Nahrung ein. Oft hatte er ihnen mit seinen Kräutern, die fast jede Krankheit zu heilen vermochten, die Gesundheit zurückgegeben. Nur eines konnten die Pflanzen nicht: dem Volk dieses Landes ihre verlorene Freiheit zurückgeben.

Eines Wintertages machte sich das alte Kräutermännchen auf den Weg hinunter ins Dorf, um ein paar Vorräte zu kaufen. Am Tor eines reichen Bauernhauses der neuen Siedler sah es einen kleinen, verfrorenen Burschen, der um etwas zu Essen bettelte. Der Bauer schrie ihn böse an, für Bettler habe er nichts übrig, und schlug das Tor krachend vor ihm zu. Nach dieser traurigen Erfahrung traute sich der Bub nicht mehr, woanders anzuklopfen.

Über das Dorf fiel schnell die Dunkelheit und der Bub, der offensichtlich nicht wusste wohin, begann herzzerreißend zu weinen. Der Großvater beobachtete mitleidig die vor Kälte und Weinen zitternde, schäbig gekleidete Gestalt. Der Bub tat ihm leid. So trat er zu ihm und sagte:

„Weine nicht, Bursche, und komme mit mir. Bei mir wird es dir nicht schlecht ergehen. Du hilfst mir etwas im Haushalt, und ich helfe wiederum dir. Allein komme ich mit der Arbeit nicht mehr zurecht. Platz gibt es dort genug für uns beide und verhungern lasse ich dich auch nicht. Wenigstens wird es fröhlicher in der Hütte.“

Das Kräutermännchen nahm den Knaben an der Hand und brachte ihn zu sich nach Hause. Als sie in die Stube eintraten, schaute sich der Knabe überrascht um: überall ringsumher sah er aufgehängte Säckchen mit verschiedenen Kräutern, die einen angenehmen Duft von Wald und Wiese ausströmten. Dem Knaben wurde von dem betörenden Duft fast schwindlig.

Der Großvater legte einen Armvoll Holz ins Feuer und machte dem durchgefrorenen Buben gleich daneben das Bett. Er bedeutete ihm, sich hinzulegen, deckte ihn mit zwei dicken Schafspelzen zu und bereitete ihm einen starken Kräutertee, damit er sich ausschwitzen konnte, denn es hatte ihn ein starker Schüttelfrost gepackt. Seine Wangen glühten wie Feuer. Als er den heißen Tee ausgetrunken hatte, schlief er sofort ein. Sein Schlaf war aber unruhig, und so wachte der Großvater die ganze Nacht über seinen vom hohen Fieber geplagten schwachen Leib. Das Heilgetränk tat jedoch das Seine. Der Morgen brachte dem Burschen endlich Erleichterung und als er erwachte, fühlte er sich schon wesentlich besser. Der Großvater bereitete ihm zur Stärkung ein kräftiges Frühstück und bat den Jungen zu Tisch.

Beim Frühstück fragte der Großvater den Buben, warum er völlig allein durch die Welt streunte. Da erzählte der Bub ihm, dass er ein Waisenkind war. Von klein auf hatten ihn arme Leute aufgezogen und als er größer geworden war, hatten sie ihn fortgeschickt, damit er selbst für sich sorgte. Sie hatten nicht einmal für die eigenen Kinder genug zu essen. So wanderte der Knabe von einem Ort zum nächsten, aber da er noch klein und schwach war und keine schwere Arbeit erledigen konnte, bekam er überall nur Schläge und Beschimpfungen zu hören. Traurig, sehr traurig ist das Leben von Waisenkindern. Der Knabe kannte nicht einmal seinen Namen.

Der Großvater nickte nachdenklich mit seinem silbrigen Haupt und als der Knabe mit seiner Erzählung zu Ende war, sagte er:

„Jeder Mensch muss einen Namen haben. Ich werde dich Dalibor nennen. Das ist ein berühmter Name und du musst schauen, dass du ihm gerecht wirst und ihm Ehre machst. Du kannst bei mir bleiben, solange du willst, kannst aber auch wann immer du willst weggehen. Denke daran, dass du frei bist wie ein Vogel, so wie ich und alle anderen Menschen. Falls du bei mir bleibst, lehre ich dich alles, was ich weiß, und das wirst du, weiß Gott, im Leben gut gebrauchen können.“

Dalibor nahm des Großväterchens Angebot mit Freude an. Er blieb bei ihm im Häuschen und half ihm überall nach Kräften. Er war ein braver, lustiger und arbeitsamer Bursche. Bei der Arbeit summte er stets ein Liedchen vor sich hin und der Großvater hörte ihm gerne zu.

So verging der Winter, und der Großvater begann den Knaben auf seine Wanderungen durch Wald und Wiesen mitzunehmen. Sie sammelten zusammen Heilkräuter und alles, was ihnen der Wald reichlich zu bieten hatte: Himbeeren, Heidelbeeren und Pilze, die sie dann unten im Dorf gegen bescheidene Vorräte für den nächsten Winter eintauschten.

Seit dem Einzug des Knaben in der Hütte war schon ein Jahr vergangen und der Großvater hatte den aufgeweckten, flinken Jungen richtig liebgewonnen. Er war ihm wie ein eigener Enkel. Gegen Abend, wenn die ganze Arbeit getan war, las er ihm oft aus großen, uralten, in Leder gebundenen Büchern vor, die er wie einen Schatz in einer Truhe hütete. Es waren Chroniken aus der ruhmreichen Vergangenheit des kleinen Volkes, in denen von Mut und Tapferkeit erzählt wurde. Der Großvater war dem Knaben ein guter Lehrer und Dalibor war ein gelehriger Schüler. Es war nicht schwierig, in dem jungen, inbrünstigen Herzen die Liebe zur Heimat zu wecken.

Bald zeigte Dalibor den Willen, selbst in den Büchern zu lesen, und damit begann für ihn eine lange Zeit des fleißigen Lernens. Da er ein strebsamer Junge war, lernte er in Kürze lesen und schreiben, und so saß er mit dem Großvater abends am Feuer und sie lasen in alten Büchern. Beim Lesen notierte sich Dalibor dauernd irgendetwas und als schließlich durch die stille Stube seine klare Stimme erklang, erkannte der Großvater, dass der gottbegabte Knabe nach den Motiven aus den Volkslegenden schöne Lieder verfasste.

Als der nächste harte Winter vorbeigegangen war und die ganze Gegend wieder grünte, gingen sie gemeinsam auf lange Spaziergänge durch die Umgebung. Sie nahmen immer Körbe mit, in denen sie verschiedene Heilkräuter sammelten. Diese legten sie später in Siebe in die Fenster, damit sie gut trockneten. Das ganze Häuschen durchströmte dann ein betörender, würziger Duft. Manchmal sammelte der Großvater die Pflänzchen ganz, manchmal nahm er nur ihre Blätter oder nur ihre Blüten, bei anderen grub er auch die fleischigen Wurzeln aus. Zu Hause lehrte er Dalibor seine Kunst. Er erklärte ihm, wie das jeweilige Kraut hieß, wie es gepflegt, wann und wo es gesammelt und wie es getrocknet wird.

Die Frühlingstage gingen schnell vorbei, ständig veränderte sich das Blütenmeer und die ganze Gegend duftete süß. Kein Pflänzchen in der Umgebung war Dalibor mehr unbekannt und er wurde seinem Beschützer ein tüchtiger Helfer. Als er die Pflanzen gut kennen gelernt hatte, begann ihn der Großvater zu lehren, wie man aus den Kräutern Heilmittel und Salben bereitete und gegen welche Krankheiten sie angesetzt wurden.

Im Sommer und im Herbst war es wieder Zeit, Waldfrüchte zu sammeln, und an langen winterlichen Abenden saßen sie wie immer zusammen und lasen in Büchern. Oft bat da das Großväterchen Dalibor, ihm zur Freude zu singen. Wenn durch die Stube des Knaben klare Stimme klang, schmunzelte der Großvater fröhlich und schüttelte vergnügt seinen grauhaarigen Kopf. Die Lieder seines Schützlings erfreuten ihn immer wieder. Oft grübelte er dabei vor sich hin, verriet aber dem Knaben nicht worüber. Dalibor schien es jedoch, dass den Großvater etwas sehr betrübte.

So vergingen ohne Veränderung mehrere Jahre, und der Knabe wuchs langsam zu einem stattlichen Jüngling heran. Der Greis bemühte sich, ihm nach und nach alle seine Weisheit zu übermitteln, und Dalibor war ihm für seine Liebe und seine Pflege sehr dankbar.

Zehn Jahre waren seit Dalibors Ankunft in der Hütte in fleißiger Arbeit wie im Traum vergangen. Es gab immer etwas zu lernen und der Jüngling erkannte immer mehr, welch große Lebensweisheit und wie viel Wissen in dem edelmütigen Herz seines Lehrers und Beschützers verborgen war.

Bis wieder ein erster Sommertag kam und mit ihm zusammen auch der Namenstag Johannes´ des Täufers. Es war eine warme Nacht und in der Stube war es heiß und stickig. Dalibor ging aus der Hütte hinaus und bereitete sich, wie er es öfters im Sommer tat, draußen im Garten im kühlenden, weichen Gras einen Schlafplatz. Als dies der Großvater bemerkte, sprach er zu ihm:

„In dieser Nacht, Dalibor, sollten die Menschen nicht unter freiem Himmel schlafen. Es ist die geheimnisvolle Johannisnacht, die einzige Nacht im Jahr, in der die Zauberblüte des goldenen Farns aufblüht und in der geheimnisvolle Wesen zu Beratungen zusammenkommen. Schlecht würde es jedem ergehen, der sie dabei stören würde.“

„Wann blüht denn der Farn?“ fragte Dalibor überrascht.

„Es ist so, lieber Junge: Kaum wird es an diesem Abend dunkel, geht an einem hundertjährigen Farn eine einzige glitzernde Knospe auf, die sich genau um Mitternacht öffnet und wie ein heller Stern golden in die Nacht erstrahlt. Man sagt, dass der Mensch, der sie findet und pflückt, vor jeglichem Zauber gefeit ist und die goldene Blüte ihm Glück bringt. Mit dem Morgengrauen verwelkt die Blüte und zusammen mit ihr verschwinden auch die geheimnisvollen Wesen. Bleibe also heute lieber unter dem Dach und verlasse diese Nacht die Hütte nicht, ich möchte nicht, dass dir etwas Böses zustößt.“

Dalibor gehorchte wie immer dem Rat des besorgten Großväterchens. Er kehrte in die Stube zurück, legte sich hin und bemühte sich einzuschlafen. Aber in der Stube wurde die Hitze immer größer und der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Als er schließlich doch am Einschlummern war, hörte er leise Schritte. Er dachte, er hätte es nur geträumt, stand aber dennoch auf und trat an des Großväterchens Nachtlager, um sich zu vergewissern, dass er nichts brauchte und alles in Ordnung war. Aber dessen Bett war leer. Als er vor die Hütte lief, erblickte er in der Ferne eine gebeugte Gestalt, die sich in Richtung Wald bewegte. War es wirklich das Großväterchen? Aber warum hatte er ihn vor der heutigen Nacht so sehr gewarnt und begab sich jetzt selbst zu so später Stunde in den Wald, der von geheimnisvollem Zauber umweht war?

Dalibor wurde bange ums Herz. Er überlegte nicht lange: Ich muss ihm nach. Ich muss ihn beschützen, so wie er mich jahrelang beschützt hat, dachte er.

Schnell zog er sich an und rannte aus der Hütte, aber der Großvater war nicht mehr zu sehen. Er war inzwischen im tiefen, schwarzen Wald verschwunden. Dalibor folgte ihm. Als er in den still gewordenen, dunklen Wald eintrat, erinnerte er sich für einen Augenblick Großvaters Mahnungen, aber die Angst wich bald der Neugier. Der Wald wurde dichter und dichter, und der Jüngling war schon so weit vorgedrungen, dass er nicht mehr ein noch aus wusste. Vom Großväterchen gab es aber immer noch keine Spur, als wenn ihn die Erde verschluckt hätte. Dalibor sah kaum die Hand vor Augen, irrte ziellos durch den Wald und bedauerte schließlich, nicht auf den Großvater gehört zu haben.

Wie finde ich jetzt nur den Rückweg? Und was wird der Großvater sagen, wenn er nach Hause kommt und mich nicht findet?

Also kehrte Dalibor um, in die andere Richtung, wo er meinte, dass der Wald enden müsste, doch er irrte. Der Wald schien kein Ende zu haben. Wie er so mit gesenktem Kopf durch das Gestrüpp stolperte, erblickte er plötzlich vor sich im Moos ein winziges, strahlendes Lichtlein, dass nicht von der Stelle wich und golden wie ein Sternchen in die dunkle Nacht leuchtete. Das Licht lockte den Jüngling mit Zauberkraft an, und durch den Wald breitete sich ein bezaubernder, süß betörender Duft aus, den Dalibor bisher nicht kannte. Die Müdigkeit, die Verschlafenheit und die Angst -0 alles war wie durch ein Wunder verflogen. Der Jüngling fühlte sich mit einem Mal leicht und fröhlich und es war ihm zum Singen zu Mute. Er trat dem Lichtlein entgegen, um zu sehen woher es kam. Und siehe, es war kein Lichtlein, sondern eine winzige, glitzernde Blüte, die hell erstrahlte.

„Die Zauberblüte des Farns“, flüsterte Dalibor, kniete ins Moos, pflückte vorsichtig die Blüte und versteckte sie sorgfältig in seinem Hemd. Dann drang er tiefer in den Wald hinein. Jetzt brauchte er sich vor geheimnisvollen Kräften nicht mehr zu fürchten, er hatte einen guten Beschützer bei sich. Kaum hatte er aber noch ein paar Schritte getan, hörte er Stimmen und sah zwischen den Bäumen einen matten Schein durchblitzen, wie von aufloderndem Feuer. Er erschrak zuerst, ob nicht ein Feuer im Wald ausgebrochen war, aber als er näher kam, erkannte er auf einer erleuchteten Lichtung eine Reihe von Gestalten. Er war nicht wenig überrascht, dass alle diese Gestalten Greise waren, die mit ihren langen weißen Bärten seinem Großväterchen wie ein Haar dem anderen glichen, als wenn sie seine Zwillingsbrüder wären. Sie berieten ernsthaft etwas miteinander. Inzwischen kamen auf die Waldlichtung immer weitere und sie grüßten sich fröhlich untereinander.

Warum sind sie hier zusammengekommen und was wird hier geschehen? dachte Paul voll gespannter Erwartung. Die grauhaarigen Greise beendeten plötzlich ihre Gespräche, traten zu einem Halbkreis auseinander und der Jüngling erblickte in ihrer Mitte einen schön geschnitzten Thron aus weißem Lindenholz, geschmückt mit Blumen mannigfaltiger Art und Farbe; als ob er aus dem Boden heraus gewachsen wäre. Auf ihm saß ein ehrwürdiger Greis mit langem weißen Haar und Bart, in einer wallenden, bis zum Boden reichenden Tunika, die mit einem goldenen Bund gegürtet war. Sonst unterschied sich aber sein Kleid von der einfachen Kleidung der anderen Greise nicht. Er blickte gütig über die Versammlung und sprach:

„Liebe Freunde! Wie jedes Jahr sind wir heute nach altem Brauch in der Johannisnacht zusammengekommen, damit ihr mir berichtet, was es Neues in unserer geliebten, von uns allen beschützten Heimat gibt, auf dass wir gemeinsam beraten, wie wir uns auf die kommenden Tage vorbereiten müssen. Seit jener Zeit, als mir der König des Nachbarlandes heimtückisch die Freiheitskrone gestohlen hat, leidet unser Volk unter dem Joch der Fremdherrschaft, und der böse Feind wartet ungeduldig darauf, dass die Klänge unserer Muttersprache für immer versiegen. Die Menschen haben ihre Freiheit für das Funkeln von Goldstücken eingetauscht. Die Reihen unserer Treuen lichten sich, und wir warten alle ungeduldig auf den Tag, der uns wenigstens einen Schimmer Hoffnung bringt. Möchte jemand von euch unserer Versammlung etwas sagen?“

Lange herrschte Stille, bis sich ein Greis zu Wort meldete. Dalibor erkannte in ihm seinen stillen Großvater.

„Unser mächtiger König Sebastian! Auch du verzweifelst bereits am Schicksal unseres Volkes? Die Zeit ist reif, eure Herzen mit einem Funken Hoffnung zu stärken. In der gestrigen Nacht zeigten mir die Sterne eine Prophezeiung.“

„Sprich schon, Wendelin, sprich“, ertönten in der Menge begierige Stimmen.

„Nun, die Sterne sagten mir, dass sich die Zeit unserer Befreiung nähert, und dies schneller, als wir ahnen. Zunächst müssen wir aber den Menschen finden, der die Blüte des goldenen Farns gefunden hat. Nur dieser Eine kann uns helfen, den listigen, bösen Zauberer, den König des Nachbarlandes Erik, zu schlagen und unsere Krone der Freiheit zurückzugewinnen. Aber auch wir selbst müssen uns für die Rettung unseres Volkes einsetzen. In Städten und Dörfern lebt unser treues Volk, es muss jedoch aus seinem Schlaf aufgerüttelt werden. Wenn es uns aber nicht gelingt, opfern wir lieber unsere eigene Unsterblichkeit und gehen zusammen mit dem uns teuren Volk unter, das wir über Jahrhunderte treu beschützt haben.

„Ich danke dir, Wendelin, für die mutigen Worte und den Hoffnungsschimmer, den du in unsere Herzen gelegt hast“, sagte Sebastian. Die Versammelten raunten zustimmend.

Da tanzte auf die erleuchtete Lichtung eine Gruppe wunderschöner Jungfrauen, in leichte Gewänder gekleidet und geschmückt mit Kränzen, bestickten Bändern und Waldblumen. Aber König Sebastian unterbrach bald ihr spielerisches Herumtollen:

„Lasst nach in eurem Reigen, Waldfeen, die heutige Nacht ist nicht für euer Freudenfest geeignet. Große Sorgen kamen über unsere Herzen.“

Plötzlich erschien wie aus dem Nichts eine neue Gestalt in ihrer Mitte:

Ein liebliches Mädchen, fast noch ein Kind, frisch wie eine Rosenknospe, von denen sie einen Strauß in den Händen hielt. Sie war in ein Gewand aus Morgenrot gekleidet, das mit Röschen bestückt war, und ihr Haar schmückte eine Rosenknospe.

„Schaut mal, Liebe kommt zu uns“, ertönte es freudig aus der Schar. Aber da sprach die Liebe schon:

„Verzeih uns, teurer Freund, wir wollten nur mit Tanz und Gesang eure Trauer und Sorge um das Schicksal der Menschen dieses Landes verscheuchen.“

„Sei gegrüßt, Liebe“, sagte Sebastian freundlich, „und setze dich auf den Thron an meine Seite.“

Plötzlich entstand ein Rauschen und verängstigtes Flüstern in den Reihen der Feen und eine von ihnen rief:

„Gebt Obacht. Wir sind verraten, irgendein Mensch hat unsere Beratung gehört. Schaut, er versteckt sich hinter dem Baum dort, ich sah den Glanz seiner Augen in der Dunkelheit.“

Sebastian winkte mit der Hand, und im nächsten Augenblick zerrten schon zwei starke Gesellen den gefangenen Dalibor hervor. Als das Großväterchen sah, wen sie brachten, rief es:

„Oh, Dalibor, warum hast du meine Worte nicht befolgt?“

Aber da sprach schon der wütende Sebastian den Jüngling selber an:

„Sage, wer bist du und was suchst du hier? Weißt du denn nicht, dass es nicht eines Menschen würdig ist, jemanden auszuspähen? Was sagst du zu deiner Verteidigung?“

„Ich heiße Dalibor und habe euch nicht ausgespäht. Aus meinem Heim hat mich nicht die Neugier getrieben, sondern die Sorge um meinen Großvater, der mir immer ein treuer Beschützer war. Ich sah ihn in der Nacht in den finsteren Wald gehen und hatte Angst, dass ihm etwas Böses geschehen könnte. Darum bin ich aufgebrochen, ihn zu suchen, kam bis hierher zu euch und wurde so ungewollt zum Zeugen eurer Versammlung. Sagt mir bitte, wie soll ich dem Volk dieses Landes helfen und die verlorene Krone der Freiheit suchen? Gern tue ich alles, um mich in euren Augen zu reinigen.“

„Es ist zu spät, Dalibor, auch wenn es so scheint, dass du die Wahrheit sprichst. Wir haben ein strenges Gesetz, das unbarmherzig alle Sterblichen bestraft, die unsere Beratung hören. Wir dürfen keinen Verrat dulden, denn man ist nicht gut beraten, den Menschen zu trauen. Darum wirst du in einen dicht belaubten Lindenbaum verwandelt, der für Jahrhunderte den Reisenden, die unter seiner Krone Ruhe suchen, vom ruhmreichen Schicksal und der Tapferkeit des Volkes dieses Landes erzählen wird. Für alle Zeiten wirst du in den Menschen die Liebe zu ihrer Heimat wecken, ihnen Kraft und Mut spenden, und wehe dem, der dir etwas antun möchte. Wir alle verehren die Linde als heiligen Baum, denn er ist das Vermächtnis unserer Vorfahren.“

Als Sebastian fertig war, stand er von seinem Thron auf, winkte mit der Hand und sagte:

„So sei es!“

Aber siehe -0 ein vertracktes Ding. Auch als Sebastian zum zweiten Mal sein Urteil rief, verlor Dalibor seine Menschengestalt nicht. Alle Anwesenden erstarrten vor Überraschung.

„Was geschieht hier?“ rief Sebastian verwundert. „Sage, Bursche, wer, mächtiger als ich, beschützt dich, dass meine Worte keine Macht über dich haben?“

„Unterwegs, hierher zu euch, fand ich im Wald eine Blüte vom goldenen Farn. Mein Großväterchen hat mir erzählt, dass diese geheimnisvolle Blüte jeden schützt, der sie bei sich hat, vor jedem Zauber.“

„Dies erklärt alles“, sagte Sebastian, „und dazu noch die Prophezeiung der Sterne“, ergänzte er nachdenklich.

„Ich denke, Junge, dass du uns nicht verrätst, und dass wir dich bedenkenlos bei uns aufnehmen können. Seid ihr alle mit meiner Entscheidung einverstanden?“

Die Versammlung raunte zustimmend und des Großväterchens Gesicht strahlte vor Freude, dass der Jüngling gerettet war. Daraufhin sagte Dalibor:

„Ich danke euch für euer Vertrauen, ich werde euch nie enttäuschen. Aber jetzt erzählt mir schon, wo der König Erik, den ich überwältigen soll, seinen Sitz hat, und wo er unsere Krone versteckt hält.“

„Eile mit Weile, lieber Junge, die Aufgabe ist wesentlich schwieriger, als sie erscheint. Die Krone zurückzugewinnen reicht nicht. Zuerst musst du das Volk dieses Landes aus seinem Schlaf wecken, seine Liebe zur Heimat, zur Muttersprache stärken, und dann erst kannst du über Erik siegen“, antwortete ihm Sebastian.

Da sagte Liebe:

„Ich bin eine treue Freundin von euch Menschen und ich denke, ich weiß, wer dir bei deiner Aufgabe helfen könnte. Ich begleite euch das ganze Leben. Ich besitze einen Zauberschlüssel, mit dem ich eure Herzen öffne. Niemand widerstand je meiner Macht. Es ist eine wunderbare Aufgabe. Weit von hier habe ich einen schönen Rosengarten und in ihm viele liebliche Knospen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Kind geboren wird, eile ich dorthin und lege ihm drei Rosenknospen ins Herz. Die erblühen in ihm zu drei schönen Blüten der Liebe: zu den Eltern, zu den Freunden und zur Heimat. Manchmal öffnen sie sich aber nicht, die Knospen siechen und welken dahin. Zu diesen Herzchen schicke ich meine Kusine, die Fee Eline, damit sie diese Knospen versorgt.“

„Ich danke dir, Liebe. Lege bitte in unsere Herzen viel Liebe zur Heimat. Du kannst als Einzige das Volk retten“, sagte Dalibor.

„Liebst du deine Heimat, Jüngling?“ fragte ihn Liebe.

„Mehr als mich selbst“, antwortete er.

„Also du siehst, meine Aufgabe ist erfüllt, ich kann nicht mehr tun. Ich gebe jedem Menschen meine Gaben in gleichem Maße, ich kann nichts dafür, dass in vielen Herzen die Knospen nun verwelken, noch bevor sie zu Blüten erblühen. Schon lange beobachte ich, dass auf der Welt die Liebe schwindet und an ihrer Stelle sich Bosheit, Neid und Hass einschleichen. Ich kann Menschen, deren Herzen zu den Eltern und Brüdern hart sind und sich nicht ängstigen, wenn ihrer Heimat Gefahr droht, nicht ein zweites Mal meine Gaben aufzwingen. Meine Kusine Eline hilft dir aber sicher.“

In dem Augenblick erschien neben Liebe die Fee Eline. Beide Mädchen glichen sich wie aufs Haar: sie hatten ganz die gleichen Augen, Haare, das gleiche Lächeln, nur war Elines Gewand himmelblau, im Haar hatte sie ein Kränzchen aus zartem Vergissmeinnicht, und in den Händen hielt sie statt Knospen eine goldene Flöte.

„Hast du jetzt verstanden, Dalibor, warum dir meine Kusine, die Fee Eline, helfen soll? Sie erscheint überall dort, wo meine Blüten welken, sie belebt und wärmt sie mit süßem Lied, damit sie in der Kälte menschlicher Herzen nicht erfrieren.“

„Sollen wir also zuerst das Volk einen und erst dann mit Erik kämpfen?“

„Ja, Dalibor“, sagte Sebastian, „wenn ein Sturm durch den Wald fegt, suchen die Bäume untereinander Schutz. So werdet auch ihr es tun. Es dämmert, wir müssen Abschied nehmen. Geht mit Gott. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner Aufgabe, Junge.“

Nach diesen Worten verhüllte eine bläuliche Dämmerung die still gewordene Lichtung und Dalibor, Eline und der Großvater blieben allein zurück.

„Lasst uns gehen“, sagte der Großvater, „ein neuer Tag bricht an.“

Als sie aus dem Wald herauskamen, gingen sie zu ihrer Hütte, um sich auf ihre Reise vorzubereiten. Die Fee Eline tauschte ihr himmelblaues Gewand gegen das Kleid eines Dorfmädchens. Der Großvater ging ins Dorf und bat eine arme Magd, so lange sie fort wären nach seiner Hütte zu schauen. Vor Einbruch der Dämmerung brachen sie auf.

Sie wanderten, bis sie in ein Städtchen kamen. Dort verweilten sie am Brunnenplatz und beschlossen, dass sie hier zum ersten Mal ihr Glück versuchen wollten. Es dunkelte bereits. Eline stieg auf den Rand des Brunnens und begann auf ihrer goldenen Flöte zu spielen. Fröhliche Töne, die aus der Flöte flossen, flogen über den still gewordenen Platz und vereinigten sich zu einem wunderschönen Lied. Die Menschen blieben verwundert stehen und horchten, woher die feine, liebliche Musik kam. Sie eilten aus ihren Häusern zum Platz und im Nu war es ringsum lebhaft wie feiertags.

Eline unterbrach, um Luft zu holen, für einen Augenblick ihr Spiel und fragte Dalibor, ob ihm ihr Lied gefiele. Der Jüngling bejahte glückselig. Und da forderte ihn Eline auf, den Menschen seine Lieder von der ruhmreichen Geschichte dieses Landes zu singen und wollte seinen Gesang begleiten.

Dalibor schämte sich, vor so vielen Zuhörern zu singen, aber Eline legte ihm ihr Händchen auf die Lippen, küsste ihn auf die Wange und sagte:

„Ach, hab´ keine Angst und singe, es wird gut, du wirst sehen.“

Und so begannen sie mit ihrem Konzert. Dalibors Stimme klang immer klarer und kräftiger über den stillen Platz. Er fühlte sich immer beschwingter, als hätte er durch den Gesang Flügel bekommen. Die Töne der Lieder flogen durch die Nacht wie die Stimmen silberner Glocken. Die Menschen am Platz stimmten mit ein. Nach dem letzten Lied trat der Großvater vor die Versammelten und forderte die Menschen zu Einheit und Brüderlichkeit auf, die das Volk zum Sieg über den heimtückischen Feind führen würden. Am Morgen verabschiedeten sich alle von ihnen wie von alten Freunden und dankten ihnen für ihre Erweckung.

So reisten unsere Freunde von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt. Dalibor und Eline sangen und spielten, das Großväterchen erzählte dem Volk von seiner ruhmreichen Geschichte und ermahnte es zur Eintracht und Tapferkeit. Im ganzen Land begannen die Menschen, Dalibors Lieder zu singen, und so ertönte überall ihre Muttersprache wieder.

In den großen, herrschaftlichen Städten war ihre Aufgabe ungleich schwieriger. Die Fremden versuchten ihr Werk mannigfaltig zu stören. Sie erkannten wohl, welche Gefahr ihnen von diesen drei Pilgern drohte. Und so haben sie, um Dalibors Gesang zu stören, laut geschrien, Krawall gemacht und eigene Lieder gesungen. Aber Dalibor ließ sich nicht einschüchtern. In diesen Augenblicken war die goldene Flöte der wichtigste Helfer der drei Freunde. Kaum erklangen ihre ersten süßen Töne, verstummten auch die wütendsten Hetzer und alle hörten wie von einem Zauberstab berührt den betörenden Klängen zu. Als dann der Greis zum Volke sprach, gewann er auf seine Seite nicht nur treue Herzen zurück, aber auch diejenigen, die früher eher abseits gestanden hatten. Die Feinde verloren sich schnell im Dunkeln, sie wussten nur allzu gut, wie es ihnen ergehen würde.

So pilgerten sie ein ganzes Jahr durch das Vaterland. Der Ruf von den drei geheimnisvollen Pilgern, die für das Volk sangen und es zur Liebe und Eintracht mahnten, hatte sich bereits über das ganze Land ausgebreitet. Überall entstand ein reges Treiben. Die Menschen nahmen sich des Großvaters Aufruf wirklich zu Herzen: verfeindete Nachbarn begannen sich zu versöhnen, die Reichen halfen den Armen, die Kinder ehrten wieder ihre Eltern. Inzwischen kamen unsere drei Freunde in ein Grenzdorf, wo nur Fremde siedelten, die ihre Lieder und auch die süßen Töne der goldenen Flöte nicht verstanden. Im ganzen Dorf fanden sie keine Stelle, wo sie hätten übernachten können, sie mussten also im einsamen Wald schlafen. Vom langen Reisen sehr ermüdet, fanden sie so im weichen Moos bald den Schlaf. Mitten in der Nacht weckte sie ein schreckliches Getöse, das immer näher kam. Im Wald war es so finster, dass man die Hand vor Augen nicht sah. Plötzlich donnerte über ihnen unheilverkündend eine Stimme:

„Lange wollte es mir nicht gelingen, euch zu fassen. Aber jetzt seid ihr ganz in meiner Macht. Ich entlasse euch nicht, bevor ich euch nicht ordentlich bestrafe.“

Darauf hin entgegnete der Großvater unerschrocken:

„Wer bist du, dass du es wagst mir mit einer Strafe zu drohen? Du sollst wissen, dass ich ein unberührbarer Wächter dieses Landes bin, und dass derjenige, der sich an mir vergreift, der gerechten Strafe aller guten Geister nicht entgeht?“

„Ich bin König Erik, euer guter Bekannter. Dieser Wald befindet sich schon auf meinem Gebiet. Glaubst du etwa, Alter, dass du auch hier unberührbar bist?“

„Haben wir uns etwa bis in dein Reich verirrt?“ erschrak der Großvater.

„Ja, und ich bin wirklich froh, dass ihr meine Gäste seid“, sprach der König hämisch weiter, „ich habe viel von euch gehört. Ihr hetzt das Volk gegen mich und meine Untertanen auf. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als euch für eure mühevolle, heilige Arbeit gebührend zu belohnen. Ich nehme nicht euch beide, sondern nur eure liebe, freundliche Freundin gefangen, die euch so sehr zu Erfolgen verhilft und mir so sehr schadet.“

„Großväterchen, rette unsere Eline!“ Dalibors verzweifelter Ruf kam aber schon zu spät. Eline verschwand in der Finsternis wie vom Erdboden verschluckt.

„Kehrt jetzt wieder nach Hause zurück und singt ruhig weiter. Ihr könnt jetzt statt der lustigen Lieder die traurigen singen“, sagte mit spöttischer Stimme der König Erik, und dann breitete sich im Wald vollkommene Stille aus.

Bis zum Morgen machten Dalibor und der Großvater kein Auge mehr zu. Schon im Morgengrauen brachen sie nach Hause auf, um König Sebastian um Rat zu bitten, wie Eline aus der Gefangenschaft zu retten war. Ohne Pause kehrten sie endlich, nach langem Wandern in ihr Heimatdorf zurück. In der gemütlichen Hütte war alles beim Alten, als wenn sie am Morgen erst aufgebrochen wären. Sie ruhten sich zuerst ein wenig aus und gegen Abend brachen sie in den Wald auf, des Königs Rat einzuholen.

Sie nahmen denselben Weg wie in der Johannisnacht, bis sie die bekannte Lichtung erreichten. Das Großväterchen ging bis zur höchsten Tanne, bückte sich zum Boden und stocherte eine Weile mit der Hand im Moos. Kurz darauf zog er einen goldenen Schlüssel aus dem Moos, mit dem er dreimal gegen die mächtige Tanne schlug. Da öffnete sich unter dem Baum ein Stollen. Der Großvater und Dalibor stiegen in den Untergrund und bewegten sich durch einen schmalen, gewundenen Gang vorwärts, bis sie nach einer Weile in eine geräumige, gemütliche, durch den Schein einer Feuerstelle beleuchtete Höhle kamen. In einem hohen, geschnitzten Sessel ruhte in tiefer Andacht König Sebastian. Es schien ihnen, dass er sie gar nicht bemerkt hatte, aber als sie sich nach einer Weile setzten, sprach sie Sebastian freundlich an:

„So sagt mir, liebe Wanderer, wie ist es euch in der Welt ergangen?“

Als er aber den besorgten Ausdruck ihrer Gesichter erblickte, ergänzte er:

„Oder bringt ihr etwa unheilvolle Nachrichten?“

„Lieber Sebastian, wir bringen tatsächlich schlechte Nachrichten. Der böse König Erik hat unsere Eline entführt. Irrtümlich waren wir bis auf sein Gebiet gekommen und dort konnten wir sie vor seiner Macht nicht mehr schützen. Wir kommen, dich um den Rat zu bitten, wo Eline jetzt zu suchen ist.“

„Dies ist nicht schwer festzustellen“, sagte Sebastian und warf eine Handvoll feuchter Tannennadeln ins Feuer und gleich danach eine Handvoll roter Vogelbeeren. Im dichten, weißen Rauch zeigte sich langsam ein Bild von einer befestigten Burg auf einem hohen Felsen. Vier Türme, von einer Mauer umschlossen, und ein tiefer Burggraben, über den sich eine Fallbrücke spannte.

„Behalte das Bild der Burg im Gedächtnis, Dalibor. Dort hält König Erik Eline gefangen. Dorthin zu gelangen wird nicht einfach sein. Es beginnt für dich ein gefährlicher Kampf auf Leben und Tod. Wenn dich doch nur die guten Geister beschützen könnten! Ich wünsche dir, dass du als Sieger aus dem Kampf zurückkehrst, aber das reicht nicht. Bewahre gut die Blüte des goldenen Farns, du wirst sie sehr brauchen. Und noch etwas, komm näher. Ich schicke dich in ein fremdes Land, ohne meine Hilfe würdest du aber die dortige Sprache nicht verstehen. Schlucke dieses Blättchen Pestwurz, und die fremde Sprache wird für dich so einfach sein, als wenn du sie zeitlebens gesprochen hättest.“

„Und hier hast du von mir ein kleines Geschenk für die Reise. Ein weißes Tuch mit gestickten Emblemen deiner Heimat: mit bläulichem Vergissmeinnicht und roten Herzchen. Dieses Tuch ist unser Zeichen. An ihm erkennen wir unsere Freunde und helfen ihnen. Wenn du irgendwohin kommst und dir nicht sicher bist, unter Freunden zu sein, falte einfach das Tüchlein vor dir aus. Falls dort Freunde sind, werden sie sich bei dir melden. Mehr kann ich dir nicht helfen. Weiter musst du allein zurechtkommen.“

Dalibor verbeugte sich tief vor Sebastian und dankte ihm für alles. Er versteckte das Tüchlein in einer geheimen Hemdtasche, wo er auch die Blüte des goldenen Farns aufbewahrte. Dann verabschiedeten er und der Großvater sich von Sebastian und stiegen zurück auf die Erdoberfläche. Der Großvater legte den goldenen Schlüssel zurück in das Versteck, und sie kehrten zusammen nach Hause. Es dämmerte schon.

Als sie Abschied nahmen, sagte das Großväterchen zu ihm:

„Lieber Junge, Gott segne dich. Komm gesund zu mir zurück. Du weißt selbst, dass ich dich so gern wie einen eigenen Sohn habe. In all den Jahren habe ich dich alles gelehrt, was ich weiß. Ich hoffe, dass es dir jetzt von Nutzen sein wird. Gott sei mit dir!“

„Auf Wiedersehen, Großvater, und danke für alles. Auch ich hoffe, dass es mir gelingt, meine Heimat und die Fee Eline zu befreien und Sebastians Krone zurückzubekommen. Ich glaube fest daran, dass wir uns alle bald gesund und munter wiedersehen werden.“

Und Dalibor ging auf die Reise. Er schritt leicht voran, führten ihn doch die Liebe und die große Sehnsucht, seinem Volk zu helfen. Auf der Reise verbrachte er oft die Nächte bei den Wächtern des Volkes in Hütten, die aufs Haar der des Großvaters glichen. Überall, wo er das weiße Tüchlein gezeigt hatte, wurde er freundlich aufgenommen. Wenn er durch Städte und Dörfer reiste, ertönten von überall her die Lieder, die er zusammen mit Eline dem Volk gesungen hatte. Und so wanderte er viele Tage, bis er zu hohen, mit dichten Wäldern bewachsenen Bergen kam. Dort war schon die Grenze zwischen seiner Heimat und Eriks Reich.

Als er die Grenze hinter sich gebracht, nahm er den Weg zum nächsten Dorf, um zu fragen, wo er die Burg mit den vier Türmen suchen solle. Die fremde Sprache sprach er so fließend, als wenn er in dem Land geboren wäre. Sobald er erfahren hatte, was er wissen wollte, eilte er zum großen See, in dessen Mitte sich eine kleine Insel mit einem steil aufragenden Fels befand. Auf dessen Spitze erhob sich eine mächtige Burg mit einem Graben ringsum. Die über den Graben führende Fallbrücke war glücklicherweise gerade herabgelassen. Endlich war Dalibor am Ziel. Er umrundete den See, aber eine Brücke zur Insel fand er nicht. Nur im Schilf versteckt entdeckte er eine kleine Fischerhütte, bei der am Ufer ein paar Boote festgemacht waren.

Dalibor trat in die Fischerhütte und bat den Fischer, ihn zur Insel zu bringen, weil er auf der Burg einen Dienst als Waffenträger oder Knecht aufnehmen wollte. Den Fischer wunderte dieser Wunsch, denn von der Burg kam keiner je lebendig zurück. Er fragte aber Dalibor nicht weiter, stieg mit ihm ins Boot und brachte ihn zur Insel. Zum Abschied wünschte er ihm viel Glück und ruderte zurück.

Der Jüngling wollte das Misstrauen der Burgwacht nicht wecken und so ging er geradewegs den Fußpfad zur Burg hoch. Er bemerkte aber sofort, dass ein Entkommen aus der Burg so gut wie unmöglich war. Für einen Augenblick wurde ihm angst und bange ums Herz. Dann erinnerte er sich aber seiner Heimat, die so sehr seine Hilfe brauchte, und da vergaß er die drohenden Gefahren sofort. Entschlossen schritt er über die Fallbrücke, pochte an das schwere, mit Eisen beschlagene Tor und wartete, was geschehen würde. Nach einer Weile erschallten im Burghof Schritte, die Torschranke polterte und eine Stimme forderte ihn auf einzutreten. Dann befand sich Dalibor im Burghof und erblickte vor sich einen bis auf die Zähne bewaffneten Wachsoldaten.

„Was suchst du hier?“ fragte er den Jüngling mürrisch.

„Ich möchte bei euch in den Dienst treten“, antwortete ihm Dalibor, „gibt´s hier etwas für mich?“

„Weiß nicht“, sagte der Wachsoldat, „das entscheide nicht ich. Wenn du willst, komm mit mir zu unserem Verwalter.“

„Wohnt denn hier nicht der Burgherr?“

„Nein, der Burgherr wohnt in einem anderen Schloss, hier befiehlt unser Verwalter. Komm schon!“

Dalibor fragte lieber nichts mehr. Der Wachsoldat führte ihn durch einen langen Gang, bis er vor einer hohen Tür stehen blieb.

„Hier wohnt der Verwalter. Frage ihn, ob er eine Arbeit für dich hat.“

Dalibor klopfte an die Tür und trat in einen hohen Saal. Er verbeugte sich vor dem finster dreinblickenden, hinter einem Tisch sitzenden Verwalter und sagte:

„Gern würde ich in den Burgdienst treten, edler Ritter, sicher werden sie mit mir zufrieden sein. Ich bin ein tapferer Geselle, mein Pfeil verfehlt nur selten das Ziel. Zudem kenne ich mich sehr gut mit Heilkräutern aus. Ich kann Arzneimittel gegen alle Krankheiten zubereiten und Wundsalben mischen.“

„Warum möchtest du gerade auf dieser Burg dienen, Bursche?“ fragte ihn der Verwalter forschend, „in der Umgebung gibt es einige Burgen. Warum hast du nicht dort nach einer Stelle gefragt?“

„Ich war dort fragen, edler Ritter, aber einen Wachsoldaten haben sie nirgends gebraucht und gefallen hat es mir dort auch nicht. Als ich aber diese feste, uneinnehmbare Burg sah, nahm ich mir fest vor, dass ich hier sogar umsonst dienen würde, wenn du mich hier behieltest. Jage mich nicht fort, bitte. Ich werde dir treu dienen.“

„Also gut, ich nehme dich auf Probe, bis unser Herr kommt. Erst er wird entscheiden, ob du hier auf Dauer bleiben kannst. Und jetzt geh schon und mach dich nützlich, sonst wird´s dir übel ergehen!“ drohte ihm der Verwalter zum Abschied.

Dalibor entspannte sich. Den ersten Schritt zu Elines Befreiung und der Erlangung der goldenen Krone hatte er glücklich hinter sich gebracht. Er wurde auf Eriks Burg in den Dienst genommen.

Der Jüngling freundete sich bald mit allen Wachsoldaten auf der Burg an, und wenn sie abends nach dem Dienst alle zusammenkamen, sang er ihnen ihre Heimatlieder, die er unterwegs gelernt hatte. Er gab aber große Acht, sich nicht zufällig durch eines der Lieder seines Landes zu verraten. Obwohl die Wachsoldaten untereinander gut Freund waren, waren sie dennoch verschwiegen und erzählten nicht, ob jemand auf der Burg im Kerker fest gehalten wurde. Jedes Mal, wenn Dalibor das Gespräch in diese Richtung lenkte, wiesen sie ihn barsch ab:

„Kümmere dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen. Je weniger du weißt, desto besser für dich.“

Und so vergingen Winter und Frühling und Dalibor hatte immer noch nicht herausgefunden, in welchem Turm König Erik seine Freundin Eline gefangen hielt.

Bis eines Tages Dalibor eine unliebsame Nachricht erreichte: Der Burgherr hat sich zum Besuch der Burg angekündigt. Der Jüngling befürchtete zu Recht ein Zusammentreffen mit Erik. Er wusste, dass ihn der König sicher erkennen würde. Und so geschah es auch. Der König ließ ihn zuerst rufen, damit er ihm die Lieder sänge, die er auch seinen Wachsoldaten gesungen hatte. Aber in dem Augenblick, als Dalibor schon glaubte, dass er unerkannt entkommen würde, forderte ihn der Burgherr auf, ihm auch welche von den Liedern zu singen, die er zusammen mit Eline seinem Volk gesungen hatte. Dann redete er lange auf den Jüngling ein, sein Volk zu verraten und auf des Königs Seite zu wechseln. Als er aber erkannte, dass er mit Dalibor im Guten wie im Bösen nichts ausrichten konnte, ließ er ihn in den Kerker werfen. Und um sicher zu sein, dass der Gefangene nicht fliehen konnte, ließ er seinen Fuß fest an den Felsen schmieden.

Dalibor überlegte verzweifelt, wie er aus dem Gefängnis entkommen könnte. In den Nächten hielt er die goldene Blüte des Farns in den Händen, um mit Hilfe ihres hellen Scheins wenigstens für eine Weile die dunkle Gruft seines Gefängnisses zu erleuchten. Dies war der einzige Schatz, den er vor dem listigen Erik hatte retten können. Er hatte ihn im Hemdkragen versteckt. Er konnte noch so viel nachdenken, er konnte keinen Gedanken fassen, wie er Erik überlisten könnte. Als er fast der Hoffnungslosigkeit verfiel, erschien plötzlich in seinem Kerker ein merkwürdiger Greis, der sagte:

„Sei gegrüßt, Dalibor, verzweifle nicht. Ich komme dir zu Hilfe.“

„Wer bist du, dass du unbemerkt bis hierher zu mir gelangen konntest?“ fragte ihn der überraschte Jüngling.

„Ich bin das Schicksal“, antwortete der Greis, „und ich helfe dir, deine Aufgabe zu erfüllen. Du hast bereits genug für die Errettung deines Volkes erlitten. Hier lasse ich dich nicht sterben.“

„Warum willst du mir helfen? Bist du mein Freund?“ fragte ihn Dalibor.

„Ich bin niemandes Freund oder Feind. Ich trete in eure Lebenswege nach meinem eigenen Ermessen und bin launenhaft wie ein Kind. Ich bringe in euere Leben eine ständige Veränderung, so durchkreuze ich eure Träume und Pläne. Manche loben mich, manche verwünschen mich. Ich bin so unstet wie eine Libelle über dem Bach. Auf mein Haupt senken sich alle eure Unfälle, Trauer und Schmerzen hinab. Ihr Menschen klagt über mich. Ihr denkt, ich wäre die Ursache für euer Unglück. Aber für sein Glück muss jeder selbst etwas tun!“

„Was nützt uns unsere ganze Mühe, wenn du mit uns nach deinem eigenen Gutdünken spielst“, sagte daraufhin Dalibor traurig.

„Du irrst, Junge, gern helfe ich mutigen und guten Menschen, nur mit Schwächlingen treibe ich mein Spiel. Ich versprach, dir zu helfen, und dieses Versprechen halte ich. Es gefällt mir, dass du deine Heimat liebst und für sie auch das eigene junge Leben aufs Spiel setzt. Es wäre zu schade, wenn du hier im Kerker elend zu Grunde gingest. Hier gebe ich dir sieben goldene Schlüssel. Aber herausfinden, wo der König Erik Eline und Sebastians Krone versteckt hält, das musst schon du selbst. Noch einfacher kann ich dir deine Aufgabe nicht machen. Bedenke aber, dass deine goldene Blüte Zauberkräfte hat. Jedes Mal, wenn du mit ihr deine Fesseln und auch das Schloss deiner Zelle berührst, wirst du frei. Gehe aber sehr vorsichtig zu Werke, damit du nicht den geringsten Schatten eines Verdachtes weckst und somit dein Vorhaben nicht gefährdest. Jetzt geh mit Gott und halte durch, wir werden uns wieder begegnen.“

Nach diesen Worten verschwand der Greis so plötzlich, wie er zuvor erschienen war. Dalibor war wieder allein. Wenn er nicht mit der Hand den goldenen Schlüsselbund umklammert hätte, hätte er gedacht, dass er alles nur geträumt hätte.

Zur Probe berührte er mit der Farnblüte die Fesseln an seinen Füßen, und sie öffneten sich lautlos und wie von selbst. Dann berührte er damit das Zellenschloss und wurde frei. Und so untersuchte Dalibor des Nachts, wenn die ganze Burg schlief, die Verliese. Es war eine sehr schwierige und gefährliche Aufgabe. Die Geheimgänge nahmen kein Ende, aber es gelang ihm eines Nachts doch, Elines Kerker zu finden und die Fee zu befreien. Er erkannte sie an den leisen Tönen der goldenen Flöte, die ihm den Weg durch das tiefe Verlies wiesen. Mit einem der goldenen Schlüssel konnte er die Zellentür leicht öffnen. Es war ein freudiges Wiedersehen. Dalibor forderte sodann Eline auf, ihm schnell zu folgen. Kaum hatten sie die Zellentür hinter sich geschlossen, erschien der Greis Schicksal erneut. Er nahm die Fee Eline in den Arm, hüllte sie in seinen Umhang und brachte sie in der Höhle der Seenixe Christine in Sicherheit.

Auf Dalibor kam jetzt die zweite, wesentlich schwierigere Aufgabe zu: herauszufinden, wo Sebastians Krone der Freiheit versteckt war.

Sobald Erik entdeckte, dass die Fee Eline spurlos verschwunden war, wurde er sehr wütend und ließ Dalibors Zelle Tag und Nacht von einem Wachsoldaten bewachen. Der Jüngling konnte nur dann hinaus, wenn sein Wächter betrunken eingeschlafen war.

Die Zeit verstrich, bis Dalibor eines Tages hörte, wie die Wächter sich darüber unterhielten, dass der König die Burg verlassen wollte. Des Jünglings Herz machte einen Sprung vor Freude. Ein Teil der Wachsoldaten begleitete den Burgherrn auf seinen Reisen, und so hatte Dalibor mehr Freiheit für seine nächtlichen Ausflüge. Als er wieder einmal am Gemach des Verwalters entlang kroch, kam der Verwalter plötzlich heraus und ging in einen ins Verlies führenden Geheimgang hinein. Dalibor folgte ihm vorsichtig und versuchte, sich den Weg zu merken.

In der kommenden Nacht ging er selbst in diesen Gang, und nach langem Suchen entdeckte er ein in den Fels gehauenes Geheimfach mit dem Wappen des Burgherrn. Aber keiner der goldenen Schlüssel, die er ausprobierte, konnte das Fach öffnen, das durch einen mächtigen Zauber böser Geister geschützt war. Da erinnerte sich Dalibor der goldenen Farnblüte und der Worte des Greises. Sobald er mit der strahlenden Blüte das Schlossfach berührte, verschwand der böse Zauber. Eine unsichtbare Feder sprang auf und das Geheimfach öffnete sich. Endlich!

Auf einem weißen Kissen aus Seide ruhte Sebastians wunderschöne goldene Krone, geschmückt mit strahlenden roten, blauen und weißen Edelsteinen. Auf ihrer Spitze glühte ein großer roter Granat, das Symbol seines Landes.

„Nun wird sie uns niemand mehr wegnehmen“, flüsterte Dalibor und drückte die Krone inbrünstig ans Herz. Da ertönte es hinter ihm:

„Das wird jetzt nur noch an euch liegen, ob ihr euch eure Selbständigkeit bewahren könnt, oder ob ihr euch wieder jemandem auf Gedeih und Verderb ausliefert. Die Freiheit ist eine allzu seltene Blüte, und ihr Duft betört leicht die menschlichen Herzen. Wehe denen, die sie nicht vernünftig zu nutzen wissen, und auch denen, die freiwillig das Sklavenjoch auf sich nehmen. Beides ist gleich gefährlich.“

Der Greis Schicksal winkte dem Jüngling, ihm zu folgen. Sie nahmen aber einen anderen Weg als den, auf dem Dalibor gekommen war. Schicksal berührte die Wand mit der Hand und sie öffnete sich vor ihm. Dies wiederholte sich ein paar Mal, bis sie wieder in Dalibors Zelle standen. Da sagte Schicksal:

„Gib mir Sebastians Krone, Dalibor, ich bringe sie zur Seenixe in Sicherheit. Allein könntest du sie vor Eriks Zorn nicht bewahren, er ist ein mächtiger Zauberer. Bisher hast du dich sehr gut gehalten. Schon bald wird deine Prüfung beendet sein. In Kürze werde ich dich holen, habe hier aber noch etwas zu erledigen. Sei inzwischen geduldig und warte auf mich.“

Kaum hatte Schicksal zu Ende gesprochen, verschwand er. Dalibor harrte sorgenvoll der Dinge, die da kommen sollten. Er kannte Eriks Wut und Jähzorn schon. Dieser hatte aber zur gleichen Zeit andere Sorgen. Eine böse Vorahnung überkam ihn, so ließ er auf halbem Wege die Pferde wenden und jagte im Galopp zurück zur Burg. Es war aber schon zu spät -0 auch die goldene Krone war spurlos verschwunden, obwohl Dalibor immer noch am Felsen in seinem Kerker angekettet war.

Nachdem Erik seinen Verlust festgestellt hatte, schloss er sich in seinem Turmgemach ein und verfügte, dass niemand zu ihm vorgelassen werden durfte. Er zog eine Kristallkugel heraus, entzündete ein Feuer in einer Schale, schüttete ein gelbliches Pulver darüber und begoss es schließlich mit schwarzer Flüssigkeit. Die Kugel stellte er dann in die Mitte, begann über ihr geheime Beschwörungsformeln aufzusagen, und rief alle bösen Geister zur Hilfe. Er wollte erfahren, wo sich Sebastians Krone befand.

Nach einer Weile begann sich an der Wand ein unklares Bild abzuzeichnen. Als es sich klärte, konnte König Erik auf ihm die Nixe Christine erkennen. Sie hielt Sebastians Krone in den Händen, lachte glücklich und ihr zur Seite saß die Fee Eline.

So ist es also! Auch die Nixen und Feen haben sich schon gegen mich zusammengetan. Aber ich fürchte mich vor niemandem, auch nicht vor der Feindschaft der Nixen. Die Krone muss ich zurück haben, und wenn ich der ganzen Welt den Krieg erklären müsste. Ihr Verlust würde auch den Verlust meiner Macht und den Niedergang meines Ruhmes bedeuten. Dies wurde mir prophezeit, aber ich werde es nie zulassen!

Erik stieß wütend die Tür auf und befahl seinen Dienern:

„Brecht augenblicklich auf, nehmt der Nixe Christine die Krone weg und greift euch die Fee Eline, schnell! Na los, beeilt euch doch!“

Dann stieß der König ärgerlich die Tür seines Gemachs zu, warf sich in den Sessel und überlegte, was er noch unternehmen konnte. Plötzlich stand ein merkwürdiger, vermummter Mann vor ihm:

„Erik, willst du etwa der Sonne gleichen? Du vergisst dabei, dass die Sonne täglich der ganzen Welt das Gute, das Nützliche und den Segen bringt und dass sie uns täglich ein strahlendes Beispiel dessen zeigt, wie vergänglich alles auf der Erde ist. Verfolge einmal ihre tägliche Bahn und denke etwas über dich nach. Ein Beginn bringt auch ein Ende mit sich. Das ist der unumkehrbare Lauf der Welt, an dem auch du nichts verändern kannst.“

„Das kann ich nicht? Und wer bist du, dass du mit mir so dreist zu sprechen und mich zu belehren wagst?“, brauste Erik wütend auf.

Schicksal enthüllte ein wenig sein Gesicht und neigte sich zum König:

„Immer noch erkennst du mich nicht, grausamer König? Doch ich bin dein Begleiter und habe dich treu dein ganzes Leben lang geleitet. Du kannst dich nicht über mich beklagen. Zuerst hat mir deine Unerschrockenheit gefallen und ich unterstützte deine Absichten. Dein Reich hast du mit Kriegen ausgeweitet und gefestigt, und ich blieb dir trotzdem wohl gesonnen. Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages mit den Kriegen aufhörst und mit deinen Nachbarn in Frieden leben würdest. Ich habe lange und vergeblich gewartet. Als ich jedoch feststellte, dass du dir mit List und Tücke auch Sebastians Land untertan machen wolltest, beschloss ich, deine Absichten zu durchkreuzen. Du wirst niemals über dieses Land herrschen. Du hast aber immer noch die Wahl.“

„Niemals werde ich meine Entscheidung ändern“, antwortete Erik hart.

„Du hast selbst entschieden, stolzer König. Ich bin mächtiger als alle deine Verbündeten zusammen. So wie ich dir früher auf deinem Weg zu Ruhm und Macht verholfen habe, so werde ich dich jetzt für deinen Stolz und deine Grausamkeit strafen. Du wirst büßen für alle deine bösen Taten. Wir begegnen uns wieder in der diesjährigen Johannisnacht in Sebastians Reich. Dort, vor der ganzen Versammlung, werde ich mein letztes Urteil über dich fällen.“

Nach diesen Worten verschwand Schicksal. Wütend und blind vor Zorn lief Erik durch die Burg wie ein wildes Tier. Als er sich etwas beruhigt hatte, schickte er einen Wachsoldaten kontrollieren, ob wenigstens Dalibor noch in seiner Zelle war. Er befahl ihm, sich von dem Jüngling keinen Schritt zu entfernen. Der Wächter untersuchte Dalibors Fesseln, als er feststellte, dass alles in Ordnung war, setzte er sich neben ihn auf den Boden und war nach einer Weile tief eingeschlafen.

Es dauerte nicht lange, da durchzog die Zelle ein frischer Wind und ein drittes Mal erschien der Greis Schicksal vor Dalibor.

„Es ist Zeit zu gehen, Dalibor. Die Rechnung ist beglichen. Fort von hier.“

Mit diesen Worten trat Schicksal zum Jüngling, nahm ihm die Fußfesseln ab, weckte den Wächter und gab diesem die Fußfesseln mit den Worten:

„He, Wachsoldat, steh auf und richte deinem Herrn aus, dass der Kampf mit mir bereits begonnen hat.“

Schicksal hüllte Dalibor in seinen Umhang und schwebte mit ihm hinab in das Seereich. Im nächsten Augenblick standen sie schon in einem herrlichen kleinen Garten, so hübsch und lauschig, dass er dem Jüngling sofort gefiel. Überall ringsum lagen gefällige Beete mit verschiedenartigsten Blumen. Dalibor freute sich über diesen herrlichen Anblick, denn während des langen Burgaufenthalts hatte er die Blumen sehr vermisst.

Mitten im Garten stand eine gläserne, von allen Seiten mit Rosenstauden bewachsene Laube. Entlang ihrer Wände waren im Halbkreis weiche samtene Sitze angeordnet, die die Besucher zum Ausruhen geradezu aufforderten. In der Mitte der Laube glitzerte ein silberheller Brunnen mit Wasserspielen, von einem Kranz aus Vergissmeinnicht umrahmt.

„Hier wohnt die Seenixe Christine. Hier warten wir auf ihre Rückkehr“, sagte Schicksal und ließ sich auf einem der weichen Sitze in der Laube nieder.

Dalibor wanderte noch eine Weile durch die Blumenbeete im Garten und labte sich an ihrem Anblick.

„Es ist so schön hier“, sagte er glücklich und setzte sich zu Schicksal.

Da lächelte Schicksal und sprach:

„Die Schönheit ist überall, lieber Junge, um euch und in euch, aber die Menschen selbst tragen die Schuld, dass sie sie nicht sehen, sie begreifen sie nicht und sie schätzen sie auch nicht. Schaue dich sorgfältig um und du wirst die Wahrheit meiner Worte erkennen. Derjenige, der in allem und überall die Schönheit finden kann, geht leichter durch das Leben. Seine Seele bleibt für immer jung und frisch und sein Herz ist gut und edel.“

In diesem Augenblick erschien über dem Brunnen leicht wie Tau die Nixe Christine und sagte:

„Du hast Recht, Schicksal, in allem ist Schönheit, aber nicht alle Menschen haben die Gabe, sich an ihren Geschenken zu erfreuen, denn viele Augen sind von Bosheit geblendet und manches Herz ist kalt wie Eis. Aber verzeiht mir bitte, dass ich euch nicht gleich begrüßt habe. Also, ihr seid meine lieben, teuren Gäste. Bleibt bei mir, solange es euch beliebt.“

„Wir danken dir, liebe Christine. Lange können wir aber nicht bleiben. Dalibor muss sich beeilen, die goldene Krone rechtzeitig zur Johannisnacht nach Hause zu bringen. Und ich muss auf König Erik ein Auge werfen, dessen Missetaten auf der Waage des Lebens die Wohltaten bereits übertreffen. Er wird nun das ernten, was er gesät hat, und diese Ernte wird ihn sicher nicht erfreuen. Erik wird sich nie mehr im Schein seiner Macht und seines Ruhmes sonnen. Jedes Licht bringt auch den Schatten mit sich und jede Gewalt trägt auch den eigenen Untergang in sich.“

Dalibor spitzte die Ohren:

„Erzähle mir mehr, Schicksal, von der Waage, von der du eben gesprochen hast. Ich möchte es besser verstehen.“

„Gut, Junge, ich erfülle deinen Wunsch, denn du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren. Die Zukunft eines jeden Menschen beruht auf dieser Waage.“

Schicksal schob eine Ecke seines Umhangs beiseite und nahm eine kleine, leichte Waage heraus. Die eine Schale war strahlend weiß wie frisch gefallener Schnee, die zweite schwarz wie die Nacht.

„Siehst du, Junge, auf die weiße Schale fallen alle unsere guten Taten, Sehnsüchte und Wünsche, auf die schwarze alle unsere schlechten Taten und böse Wünsche. Die Wohltaten sind aber leicht wie Federn, und so bedarf es ihrer viele, um eine einzige bleischwere Missetat auszugleichen. Und so, je nachdem, wie die Schalen dieser Waage sinken oder steigen, bewegt sich auch euer Leben. Wenn die weiße Schale nach unten sinkt, sagt ihr, das Schicksal ist euch gewogen, und wenn die schwarze sinkt, dass es euch an Glück fehlt. Dann jammert ihr über mich, als wenn ich es verursacht hätte.“

„Und du lenkst die Waage menschlicher Taten?“ fragte Dalibor nach.

„Nein. Das ist nicht nötig. Ich bewache und korrigiere nur die Bewegung der Schalen. Ich beschleunige, oder verlangsame sie. Deshalb belohne ich die Wohltaten und bestrafe eine Missetat nicht sofort. Ich warte zuerst ab, beobachte und urteile erst nach Jahren. Dann belohne ich oder strafe gerecht ab. Du bist noch jung, Dalibor. Eines Tages wirst du begreifen, dass es nur so gerecht sein kann. Das Leben zeigt dir selbst, wo wahres Glück und Zufriedenheit zu suchen sind. Es ist nicht immer einfach. Oft wird das, was am Anfang als das größte Unglück erscheint, am Schluss zum größten Glück“, beendete Schicksal seine Rede.

„Trotzdem denke ich, Schicksal, dass jeder Mensch das Recht auf Glück hat“, sagte Dalibor.

„Darin stimme ich mit dir überein, aber denkst du, dass alle Menschen auf der Erde wissen, wo es zu suchen ist? Bei euch könnten es alle erreichen, wenn ihr einander ehren und lieben und euch gegenseitig helfen würdet wie eine große Familie. Dann wird auch der Reichtum wertlos. Wenn ihr einer dem anderen zum Bruder werdet, werden sich auch eure Ziele und euer Schicksal gleichen. Dann werden alle Menschen eures Landes glücklich und zufrieden.“

„Wenn es doch überall auf Erden so wäre“, seufzte Dalibor.

„Eines Tages wird es sicher geschehen, und die Menschen werden keine guten Geister mehr brauchen, die sie beschützen“, mischte sich in ihr Gespräch die Seenixe Christine, „solange aber böse Eriks die Welt beherrschen, und dass wird noch lange der Fall sein, kann die Menschheit nicht glücklich sein.“

„Du hast Recht, liebe Christine, aber ich rede hier und die Zeit läuft uns davon. Gut, dass du mich an König Erik erinnerst. Ich muss gehen“, sagte Schicksal und erhob sich zum Abschied.

„Dir, Dalibor, wünsche ich einen guten Nachhauseweg. Bringe Sebastians Krone sicher in deine Heimat. Damit ist deine Aufgabe erfüllt. Du hast die Prüfung gut bestanden. Alles andere werde ich selbst besorgen. In der Johannisnacht werden wir uns ein letztes Mal begegnen.

Und dir, liebe Christine, danke ich für deine Hilfe und den lieben Empfang. Geht beide mit Gott und auf baldiges Wiedersehen.“

Schicksal verschwand, und der Jüngling blieb mit der Nixe allein.

„Komm, Dalibor, ich bringe dich über den See und gebe dir die Krone deiner Heimat zurück.“

Christine nahm Dalibor bei der Hand und führte ihn über das Wasser wie auf einem trockenen Weg. Als sie ans Ufer gelangten, tauchte die Nixe im See unter und kehrte nach einem Augenblick mit einem herrlichen, reichgeschmückten Schrein zurück.

„Schau, Jüngling, ich habe euren Schatz gut aufbewahrt.“

Als sie den Deckel des Schreins anhob, erstrahlte von innen der blendende Widerschein der Edelsteine.

„Eile, Dalibor, damit du bald die Grenzen dieses Landes hinter dir gelassen hast. Du bist hier nicht mehr in Sicherheit, denn überall hat sich das Volk gegen König Erik erhoben. Wer Wind sät, erntet Sturm, das weißt du doch. Aber sei nicht traurig“, ergänzte sie, als sie den Jüngling anschaute, „wir werden uns wiedersehen. Niemals wirst du deine Freunde verlieren. Ich wünsche dir viel Glück.“

Die Seenixe verschwand, und noch bevor die Sonne überm Horizont aufgegangen war, war Dalibor bereits auf dem Weg nach Hause.

Der geduldige Greis Schicksal brach inzwischen zum letzten Mal zu König Erik auf.

Als er leise in sein Gemach eintrat, schlief Erik unruhig. Der Greis Schicksal sprach ihn an und der König erwachte sofort aus seinem Traum.

„Erik, hast du endlich erkannt, welch ein gefährlicher Gegner ich bin, wie schnell ich alle deine Pläne durchkreuzen kann? Wo ist die Fee Eline, wo hast du die goldene Krone und wo bleibt dein Häftling Dalibor? Antworte mir! Und wo sind alle deine Freunde?

Ich bin gekommen, dir die allerletzte Warnung zu geben. Du besitzt ein großes Reich, es ist nicht nötig, es weiter zu vergrößern. Lass deine Feindschaft und lebe in Frieden mit deinen ruhigen Nachbarn. Noch kannst du dein Land und dich selbst retten.“

„Warum versuchst du mich dauernd zu überreden?“ fragte König Erik den Greis, „schon einmal habe ich dir gesagt, dass ich von meinen Plänen nicht abweichen werde. Ich habe vor Nichts und Niemandem Angst, auch nicht vor dir! Mir ist alles erlaubt!“

„Denkst du das wirklich, Erik? Wie stolz und töricht du bist! Nun, es soll geschehen, wie du es wünschst. Du bekommst deine verdiente Strafe. Nur deine Untertanen, die unschuldig mit dir für deine Sünden leiden sollen, tun mir leid. Darum bin ich gekommen, dich ein letztes Mal zu warnen. Siehst du? Überall um dich herum herrscht das Verderben. Alle verlassen dich, du hast keine Freunde mehr. Dein Schicksal erfüllt sich. Büße also für deine Sünden. Wir werden uns bald wiedersehen!“

Sprachs und verschwand.

Als Erik am Morgen erwachte und aus dem Fenster auf den See schaute, sah er, wie sich der Burg von allen Seiten ein Soldatenheer näherte.

Verrat durch die eigenen Untertanen? Genau das hat mit der Greis Schicksal prophezeit, dachte sich Erik und knirschte mit den Zähnen. In diesem Augenblick stürzte sein treuer Wachsoldat herein mit der Nachricht, dass sich das Volk im ganzen Land gegen ihn erhob und die Heere bereits auf dem Weg zur Burg waren, um ihn zu stürzen und gefangen zu nehmen.

„Beeile dich, mein Herr, vielleicht kommen wir noch rechtzeitig über den See. Wir müssen sofort fliehen.“

Schnell liefen sie den schmalen Pfad von der Burg hinunter zum See. Sie riefen mehrmals nach dem Fischer, aber der wollte lange mit dem Boot nicht kommen. Stattdessen kam das Heer immer näher an das Seeufer. Als der Fischer endlich mit dem Boot kam, war es zu spät.

Erik sah, wie ein Boot mit Soldaten ihrem Boot schnell näher kam und fiel in Ohnmacht. Die Soldaten holten sie mitten auf dem See ein. Aber obwohl die Soldaten sein Boot auf den Kopf stellten, konnten sie den König nicht finden. Sie mussten sich mit der Gefangennahme seines Wachsoldaten zufrieden geben. Erik war verschwunden!

Inzwischen wanderte Dalibor ungehindert Richtung Grenze. Unter dem Mantel trug er ans Herz gedrückt den herrlichsten Schatz -0 Sebastians Krone, das Freiheitssymbol seines Volkes.

Er ging durch viele Städte und Dörfer, bis er endlich die Grenzwälder vor sich hatte. Er wusste, sobald er diese Wälder und diese Berge überwunden haben würde, würde er zu Hause und in Sicherheit sein. Er ging und ging, die nächste Nacht und den nächsten Tag, fast ohne Halt, und am Abend war er zu Hause in seinem Land. Da es schon dämmerte und er nirgends eine Übernachtungsmöglichkeit fand, legte er sich unter einen Baum ins Moos, um auszuruhen.

Da ertönte unweit von ihm ein leises Flüstern. Dalibor erschrak zuerst, ob ihm nicht eine Gefahr drohte, und spitzte die Ohren. Gleich darauf wurde ihm bewusst, dass er beide Stimmen gut kannte.

„Großväterchen, Eline!“, rief er erfreut.

„Dalibor!“

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die ganze Nacht hatten sie sich zu erzählen. Am Morgen, als sie sich doch noch etwas ausgeruht hatten, eilten sie weiter nach Hause.

„Bis zur nächsten Nacht, Dalibor, müssen wir in unserem Dorf sein. Die Johannisnacht bricht an. Der Greis Schicksal hat uns deine Rückkehr angekündigt und schickt uns dir entgegen, damit du rechtzeitig mit der Krone zur Waldversammlung kommst“, sagte das Großväterchen.

Wie sie sich ihrem Heimatdorf näherten, schlossen sich ihnen immer mehr Pilger an. Die Menschen waren festlich gekleidet, lachten und erzählten sich gegenseitig von irgendeinem großen Fest. Dalibor fragte den Großvater danach, aber der zuckte nur die Schultern.

Als sie die Hütte erreichten, war es schon Abend. Sie erfrischten sich und brachen in den Wald auf. Diesmal war der Wald aber nicht öde und still, ringsumher ging es lebhaft zu. Die Lichtung strahlte weithin im Schein von Tausenden von Kerzen. Wie groß war Dalibors Überraschung! Auf dem weißen Thron aus Lindenholz, um den herum ein Meer verschiedenster Blüten wogte, saß Sebastian, an seiner Seite Liebe, und vor dem Thron standen die Waldzwerge, die Feen, die Nixen und auch die Berggeister. Dem Thron am nächsten stand eine Gruppe weißhaariger Greise, der Beschützer seiner Heimat, und überall ringsherum Scharen von Menschen.

„Komm nur, Dalibor, scheue dich nicht. Die Versammlung wartet schon auf deinen Bericht von der Reise zur Rettung der goldenen Krone“, forderte das Großväterchen den Jüngling freundlich auf, als er dessen Verlegenheit bemerkte.

Mit ihrem Eintreffen verstummten die Gespräche auf der Lichtung. Dalibor nahm seinen ganzen Mut zusammen, verbeugte sich vor den Versammelten und sagte mit klarer Stimme:

„Es ist gerade ein Jahr vergangen, seit ich an dieser Stelle geschworen habe, die Krone König Sebastians wiederzubeschaffen. Allein wäre ich aber bei einem Kampf mit dem grausamen Zauberer Erik verloren gewesen. Bei dieser schwierigen Aufgabe, unser Volk zu neuem Leben zu erwecken, haben mir mein liebes Großväterchen und auch die Fee Eline treu geholfen. Sie wurde von König Erik am Ende doch noch gefangen genommen und in den Kerker geworfen. Ich begab mich in Eriks Reich, sie zu befreien, und fiel selbst in Gefangenschaft. Ich habe schon geglaubt, dass es mit mir zu Ende ginge, und dass es mir nicht mehr gelingen würde, meine Aufgabe zu erfüllen. Da kamen mir zwei neue Freunde zu Hilfe: der Greis Schicksal und die Nixe Christine. Sie haben Eline und mich aus dem Gefängnis befreit und mir auch dabei geholfen, unsere heilige Freiheitskrone zu bergen. Nicht mir, sondern ihnen gebührt der größere Verdienst, dass die goldene Krone jetzt zu dir zurückkehrt, ehrwürdiger Sebastian.“

Die Versammlung brach in lauten Jubel aus. Dalibor trat zum Thron und reichte Sebastian die strahlende Krone. Dann beugte er ein Knie und rief:

„Es lebe unser König Sebastian!“

Als der Jubel endlich verebbte, sprach Sebastian gerührt:

„Ich bin schon alt und ihr braucht keinen König und keine Königin, die euch regieren müssten. Ihr selbst könnt nun die Geschicke eures Landes lenken. Ich bleibe nach wie vor euer Freund und Beschützer, wie ich es immer gewesen bin. Ihr seid nun eine große Familie. Liebt und helft euch gegenseitig. Jetzt wird euch niemand mehr die Freiheit nehmen.

Und dir, lieber Dalibor, gebührt mein großer Dank. Denn wenn es dich nicht gäbe, hätten Schicksal und Christine niemanden, dem sie helfen könnten.“

In dem Augenblick erschienen vor dem Thron drei weitere Gestalten: der Greis Schicksal, die Seenixe Christine und König Erik. Und Schicksal rief mit mächtiger Stimme:

„Schaut, wen ich euch bringe. Das ist euer gestürzter Tyrann, lasst ihn uns richten! Der Tod jedoch wäre ein zu mildes Urteil für solch einen Verbrecher. Bis ich ihm erlaube zu sterben, muss er alle seine Missetaten auf der Erde büßen.

Also, Erik, gehe durch die Welt als verabscheuungswürdiger Landstreicher, dein Gewissen soll dir keinen Augenblick Ruhe gönnen, dein Herz soll all den Schmerz, das Leid und die Trauer erfahren, die du anderen zugefügt hast. Niemand wird Mitleid mit dir haben. Für alle Zeiten wirst du zum abschreckenden Beispiel für rücksichtslose Gewalt, unersättliche Gier, Grausamkeit und Stolz. Dein Traum geht in Erfüllung: du wirst unsterblich, nicht zu deinem Ruhm, aber zur ewigen Schmach und Schande. Erst wenn all das Leid, das du anderen zugefügt hast, abgegolten und alle Wunden verheilt sind, dann erst werden wir quitt sein und ich werde dir erlauben zu sterben.

Und jetzt verschwinde aus meinen Augen!“, rief Schicksal mit strenger Stimme, winkte mit der Hand, und Erik war im Wald verschwunden.

Dann wandte sich Schicksal zum versammelten Volk und sagte:

„Euer großer Wunsch ist erfüllt. Auf Sebastians Haupt strahlt wieder die Krone der Freiheit. Bewacht und beschützt dieses kostbarste Geschenk, das alle Schätze der Welt aufwiegt. Wählt aus eurer Mitte besonnene und weise Männer, die in eurem Land über die Ordnung wachen sollen, aber bedenkt:

Nur freie Menschen können gänzlich glücklich werden!“

So sprach Schicksal, segnete das Volk und verschwand. Dann wandte sich König Sebastian ans Volk:

„Seid einig, liebt aneinander, und die guten Geister werden euch nie ihre Hilfe versagen und werden euch auch in schlechten Zeiten nicht verlassen. Lebe wohl, mein teures Volk!“ rief Sebastian noch und winkte allen zum Abschied.

In diesem Augenblick verschwand Sebastian und mit ihm zusammen verschwanden auch alle geheimnisvollen Wesen. Nur ein blendendes Licht und Tausende von Blüten blieben an der Stelle übrig, wo vor einer Weile noch der weiße Lindenthron gestanden hatte.

Die Menschenscharen gingen langsam auseinander und machten sich auf den Nachhauseweg. Die Menschen steckten sich, als kostbarste Erinnerung an diese Nacht, die restlichen Blumen an die Brust, um sie mit nach Hause zu nehmen.

Unsere drei Freunde verließen als letzte die Lichtung: das Großväterchen, Dalibor und Eline. Sie verschwand als einzige nicht zusammen mit den guten Geistern. Als Dalibor glücklich ihre Hand drückte, sagte sie fröhlich:

„Ich bleibe bei euch hier auf der Erde, denn ich will, dass sich in eurer Gegend Gesang und Lachen ausbreiten, die Trauer und Leid vertreiben. Wo Gesang ist, sind auch gute Menschen, und wo gute Menschen sind, dort gedeihen auch Liebe und Glück.“

Eline nahm Dalibor und den Großvater fröhlich bei den Händen und zusammen verließen sie den Wald.

Die lange Nacht war vorbei. Im rosa Morgenrot erwachte für das freie Volk ein neuer Morgen.

„Von wahren Werten überzeugt uns in der Regel erst ihr Verlust.“
(Arthur Schopenhauer)

Von Glückling und den zwei Brüdern

Vor ewigen Zeiten lebte einmal ein sehr reicher Kaufmann, dem so viele Überseeschiffe gehörten, dass er sie kaum zählen konnte. Sie brachten ihm aus fremden Ländern viele kostbare Waren, die er dann mit seinem Fuhrwerk im ganzen Land verkaufte. Der Kaufmann ließ sich in der Stadt ein großes Haus bauen, mit einem wunderschönen Garten, in dem er am Abend gern im Kreise seiner Familie saß. Er hatte eine gute Frau und zwei Söhne, Thomas und Hans. Seine Familie liebte der Kaufmann mehr als alle Schätze der Welt.

Seine Söhne waren wie Zwillinge: gleich groß und einander sehr ähnlich. Beide hatten auch ein liebenswürdiges Wesen, so dass die Menschen sie oft verwechselten. Zu den Eltern waren sie gleich freundlich, und dennoch hatte die Mutter den lustigen Hans und der Vater den mutigeren Thomas ein bisschen lieber.

Des Kaufmanns Familie lebte lange zufrieden und das Vermögen wuchs ständig. Bis eines Tages eine traurige Nachricht kam: zwei ihrer besten Schiffe waren auf See von Piraten überfallen worden und die kostbare Fracht, die sie geladen hatten, verloren gegangen. Den Kaufmann machte der Verlust der Schiffe sehr traurig und es überkam ihn plötzlich eine böse Vorahnung sich nähernden Unglücks. Beklommen wartete er, was noch geschehen würde. Eine weitere traurige Nachricht ließ nicht lange auf sich warten. Kaum ein Monat war vorbeigegangen, als ein schrecklicher Sturm, der auf der See tobte, fast alle restlichen Schiffe des Kaufmanns verschluckte. So verlor der Kaufmann auf einmal fast sein ganzes Hab und Gut. Mit Angst und Bange erwartete er die Rückkehr seiner Fuhrwerke, die er auf Handelsreisen in entfernte Städte entsandt hatte. Schon lange war die Zeit ihrer Rückkehr verstrichen, aber bisher war kein einziges von ihnen zurückgekehrt und es kam auch keine Nachricht. Bis der Kaufmann eines Tages erfuhr, dass Räuber im Wald auch seine Wagen überfallen hatten und nichts von den Waren zu retten gelungen war.

Aus dem reichen Kaufmann wurde innerhalb kürzester Zeit beinahe ein Bettler. In sein Haus, wo bisher Glück, Überfluss und Zufriedenheit geherrscht hatten, kehrten plötzlich Armut und Sorge ein.

Die Söhne teilten die Trauer ihrer Eltern und beschlossen, dass sie bereits stark und groß genug waren, um in der Welt ihr Glück zu versuchen. Die Mutter wollte die Söhne nicht fort lassen. Sie hatte Angst, dass ihnen in der Welt was Böses zustoßen könnte. Sie sagte zu ihnen:

„Kinder, ihr seid doch unsere einzige Freude und Hoffnung, verlasst nicht das elterliche Haus. Was würden wir im Alter tun, wenn wir auch euch verlieren würden?“

Dem Vater aber gefiel die Entscheidung der Knaben und er sagte:

„Also gut, versucht euer Glück. Aber bevor ihr aufbrecht, hört und bewahrt gut meine Erzählung im Gedächtnis, denn von ihr hängt das Glück unseres ganzen Geschlechts ab. Wie ihr wisst, war bisher über uns kein Unglück gekommen.“

Des Vaters Miene wurde plötzlich traurig.

„Ich glaube, ich weiß, warum uns das Glück verlassen hat. Es war meine Schuld, und ich möchte, dass ihr die Wahrheit wisst. Ich habe unser Glück zu gering geschätzt, ich habe es als selbstverständlich angenommen und nicht als ein großes Geschenk. Hört also, was geschah.“

Die Knaben, als auch die Mutter schauten den Vater überrascht an und baten:

„Erzähle, Vater.“

Und der Kaufmann begann zu erzählen:

„In unserem Haus wohnte seit Urzeiten das Heinzelmännchen Glückling. Es war ein kleiner Winzling, etwa so groß wie eine Kinderpuppe. Auf dem Kopf trug er eine blaue Mütze, an deren Ende statt eines Glöckchens ein Edelstein wie der Regenbogen strahlte. Wie ihr wisst, sind Heinzelmännchen, die in menschlichen Behausungen wohnen, für unsere Augen unsichtbar. Ein Mensch kann sie nur dann sehen, wenn sie ihre Mütze vom Kopf nehmen. Das machen die Heinzelmännchen aber nur selten und so bleibt ihre Welt, wie so viele anderen Sachen, dem Menschen verborgen. Und eben genau solch ein Heinzelmännchen Glückling mit einer blauen Mütze wohnte bei uns in einer Dachkammer und bewachte unser Glück. Für diesen treuen Dienst musste jeder Hauswirt unseres Geschlechts dem Heinzelmännchen zweimal täglich einen kleinen Becher Wein bringen, das war alles.

So lange auch ich diesen leichten Dienst erfüllt hatte, waren wir glücklich und zufrieden. In der letzten Zeit nahmen mir aber große Geschäfte so viel Zeit weg, dass ich eines Tages unser Heinzelmännchen vergaß. Erst am nächsten Tag erinnerte ich mich meiner Pflicht und lief, um meinen Fehler gut zu machen, mit einem Becher Wein hinauf in die Dachkammer. Ich sagte zu ihm:

"Sei bitte nicht böse, Glückling, dass ich vor lauter Arbeit und Sorgen im Geschäft deiner vergessen hatte. Es geschieht nie wieder."

Das Heinzelmännchen, das mich schon ungeduldig erwartete, runzelte die Stirn und sagte:

"Bringe deinen Wein fort, ich brauche ihn nicht mehr. Noch Heute verlasse ich für immer dein Haus, undankbarer Mensch. Nur ein Kinderspiel war deine Pflicht und trotzdem hast du sie so leichtsinnig vernachlässigt. Es waren viele von uns auf dieser Welt, wir hatten euch, Menschen, viel geholfen, aber ihr verdient unsere Hilfe nicht. Ihr selbst vertreibt uns mit eurer Selbstsucht. Ich kehre zurück zu meinen Brüdern in unser Königreich."

Vergeblich bat ich das Heinzelmännchen immer und immer wieder um Vergebung. Als das Heinzelmännchen zu Ende gesprochen hatte, setzte es seine Mütze auf und verschwand aus meinen Augen. Seit der Zeit, als das Heinzelmännchen aus unserem Haus ausgezogen war, verfolgt uns ein Unglück nach dem anderen.“

Der alte Kaufmann beendete seine Erzählung und seufzte schwer. Seine Söhne hatten noch nie von einem Hausheinzelmännchen gehört. Sie beschlossen, dass sie Glückling suchen und ihn bitten würden, mit ihnen ins Elternhaus zurückzukehren.

Gleich am nächsten Tag bei Tagesanbruch traten die Brüder ihre Reise an. Sie ahnten nicht, wo sie das Heinzelmännchen des Glücks suchen sollten. Sie kannten nur seinen Namen. So wanderten sie lange durch ferne Länder und fragten alle Menschen, denen sie begegneten, aber niemand wusste, wo die Heinzelmännchen wohnten.

Die Zeit ging schnell vorbei. Ein Jahr waren sie bereits unterwegs, aber bisher hatte ihnen niemand sagen können, wo sie das Königreich der Heinzelmännchen finden könnten. Bis endlich ein Gastwirt in einem verlorenen Dorf, als sie sich ihm anvertraut hatten, wen sie suchten, ihnen riet, zu einem geheimnisvollen, mächtigen Zauberer zu gehen, der im tiefen Wald hauste. Die Knaben dankten dem Wirt für seinen Rat und machten sich früh am Morgen wieder auf den Weg.

Des Zauberers Hütte fanden sie im Wald schnell. Als sie an die Tür klopften, erschien auf der Schwelle ein kleiner ergrauter Greis, der sich ihre Geschichte und die Bitte um Rat aufmerksam anhörte. Er schaute sich beide Brüder gut an und lud sie dann hinein.

Dämmerlicht herrschte in der kleinen Hütte. Der Greis setzte beide Knaben an den Tisch und begann nachzudenken. Die Brüder wagten nicht ihn zu stören. Erst nach langer Zeit sprach der Zauberer:

„Ihr habt gut daran getan, dass ihr gekommen seid, mich um einen Rat zu bitten. Ich weiß, wo das Königreich der Heinzelmännchen liegt und ich weiß auch, wie ihr dorthin gelangen könnt.“

Die Knaben waren sehr erfreut, dass das Ende des vergeblichen Wanderns nahte und versprachen dem Greis, ihre Eltern würden seinen Rat reich belohnen. Der Greis aber sagte:

„Ich brauche keine Belohnung von euren Eltern, denn ihr selbst müsst euch meine Hilfe verdienen. Gebt Acht, was ich euch jetzt erzähle. Hinter sieben Bergen im siebten Wald liegt das berühmte Reich der Heinzelmännchen, in dem der König Richard herrscht. Dorthin ging auch euer Hausheinzelmännchen Glückling. Den Eingang in das Königreich der Heinzelmännchen findet ihr im siebten Wald auf der Lichtung zu den drei Kiefern, bei deren Wurzeln eine kleine Quelle entspringt. Derjenige aber, der hinein treten möchte, muss bis zum Vollmond warten, wenn die Heinzelmännchen aus ihrem unterirdischen Reich auf die Erde kommen, um Nahrung zu suchen. Dann fährt auch ihr König zu einem Spaziergang heraus und nur zu diesem Zeitpunkt ist es möglich, durch das Tor hinein zu gelangen. Wer von euch beiden will auf die Reise dorthin gehen?“

Beide Brüder meldeten sich, aber der Greis sagte:

„Nur einer von euch wird zu den Heinzelmännchen gehen, der andere bleibt bei mir. Ich gab euch einen Rat und für diesen will ich von euch Gehorsam und auch Hilfe. Hans ist schwächer und darum bleibt er da. Thomas wird allein gehen.“

Den Brüdern blieb nichts anderes übrig, als sich des Zauberers Befehl zu fügen. Der Zauberer sprach weiter:

„Du, Thomas, trittst gleich morgen die Reise an. Die Zeit läuft, du musst dich beeilen, wenn du rechtzeitig bei den Heinzelmännchen sein willst. Sei sehr vorsichtig, damit du im Wald keinen großen Lärm machst und die Heinzelmännchen nicht erschreckst. Sollten sie deine Gegenwart bemerken, wäre deine Aufgabe verloren.“

„Wie soll ich aber unseren Glückling mitten in der dunklen Nacht erkennen, wenn ich mich nicht verraten darf?“

„Um Glückling kümmere dich nicht. Das werde ich selbst besorgen. Deine Aufgabe ist es, bei den Heinzelmännchen ein kleines Glöckchen mitzunehmen, das hinter dem Tor zu ihrem Königreich hängt. Wenn du mir das Glöckchen bringst, werde ich dich gut belohnen und Glückling werde ich selbst in euer Haus schicken.“

„Wozu brauchst du das Glöckchen?“ fragte Thomas den Greis.

Und der Zauberer antwortete:

„Wolle nicht allzu viel wissen. Wenn ich mit ihnen nicht im Streit wäre, würde ich mir selbst bei ihnen das Glöckchen holen.“

Nachdem der Greis zu Ende gesprochen, schickte er die Brüder schlafen. Lange in die Nacht hinein las er in Zauberbüchern und bereitete auf dem Feuer eine Zaubertinktur. Am Morgen weckte er Thomas und ließ eine weiße Taube aus dem Käfig frei.

„Die Taube wird dich führen, Thomas. Geh ihr immer nach und schließe sie am Abend immer gut in den Käfig ein, damit sie nicht wegfliegt, sonst werde ich dich streng bestrafen. Sobald du das Glöckchen von den Heinzelmännchen bekommen hast, eile hierher zurück. Dein Bruder wird bei mir so lange warten, bis du zurückkommst. Falls du mich verraten solltest, siehst du deinen Bruder nicht mehr lebendig wieder“, endete der Greis und reichte Thomas den weißen Käfig.

Dann nahm er vom Fenster einen leeren, silbernen Käfig, nahm aus der Tasche seines Umhangs ein grünes Fläschchen und bespritzte Hans mit einer Zaubertinktur. In diesem Augenblick verwandelte sich der Knabe in einen kleinen Vogel, der traurig in den bereiten Käfig flog. Der finster blickende Greis schloss den Käfig und hängte ihn ins Fenster. Thomas erzitterte vor Furcht. Erst jetzt erkannte er, dass vor ihm ein böser Zauberer stand.

„Jetzt siehst du, Thomas, dass ich manches kann, was andere nicht können. Du weißt, dass ich dich überall finden kann und falls du mich doch noch betrügen wolltest, werde ich dich und deinen Bruder grausam bestrafen. Nun weißt du schon, was nötig ist. Gehe und sei vorsichtig.“

Nach diesen Worten stieß ihn der Greis aus der Hütte hinaus. Die weiße Taube flatterte hoch über seinem Kopf mit den Flügeln und sie brachen zusammen auf.

Lange, sehr lange folgte Thomas der weißen Taube, bis er endlich in den siebten Wald kam. In seiner Mitte fand er die kleine Lichtung, die mächtige Kiefer und bei ihren Wurzeln die kristallklare Quelle. Sie strahlte in grünem Moos wie der silberne Mond. Das Brunnenwasser war kühl wie Eis und ihren Grund konnte man nicht erblicken. Der Knabe begriff, dass er am Ziel war und ihm nichts anderes übrig blieb, als den Vollmond abzuwarten. Müde von langem Wandern setzte er sich unter einen nahen breitkronigen Baum, neben einem Bach, der sich fröhlich durch den Wald wand. Der liebliche Duft der Waldblumen und die abendliche Kühle wiegten in bald in den Schlaf.

Plötzlich weckte ihn ein wunderschöner Gesang, der irgendwo aus der Nähe kam. Leise stand er auf und schaute sich um, woher der Gesang käme. Am Bach, unweit der Stelle, wo er geschlafen hatte, erblickte er ein paar wunderschöne tanzende Mädchen. Jedes von ihnen war in einen leichten, regenbogenfarbenen Schleier verhüllt. Im Mondschein flogen ihre Schleier im Tanz wie große bunte Schmetterlinge umher. Die Mädchen begleiteten ihren Tanz mit leisem Gesang. Mitten im Reigen stand das schönste von ihnen, ein großes, schlankes Mädchen, in einen schneeweißen Schleier gehüllt. Seine Gestalt spiegelte sich in hellem Mondschein im glitzernden Bach wie in einem herrlichen Spiegel. Im langen schwarzen Haar, dass ihm über die weißen Schultern fiel, glänzte eine kleine goldene Krone. Sie war gänzlich mit Edelsteinen besetzt, die wie Sterne strahlten. In der Hand hielt es einen lieblichen Kranz aus Seeblumen. Thomas begriff, dass die tanzenden Mädchen Nymphen waren, Beschützerinnen der Bäche und der Flüsse und das Mädchen mit der strahlenden Krone ihre Königin war. Er duckte sich, damit ihn die Nymphen nicht bemerkten und wartete, was weiter geschah.

Nach einer Weile winkte die Nymphenkönigin den Mädchen, mit Tanz und Gesang innezuhalten, und sagte:

„Der böse Zauberer will wieder das Glöckchen des Königs der Heinzelmännchen gewinnen. Er schickte des Kaufmanns Sohn Thomas her, damit er ihm das Glöckchen bringe. Unsere unglückliche Schwester Selan hat Thomas hierher geführt, die der Zauberer in eine weiße Taube verwandelt hatte. Dem Knaben hat er befohlen, sie für die Nacht immer in einen Käfig zu sperren, darum können wir sie nicht befreien. Wenn sie nur zu uns her fliegen könnte, würde ich ihr um den Hals einen Seerosenkranz legen und der böse Fluch würde vergehen. Selan könnte wieder zu uns zurückkehren.“

Als Thomas hörte, dass die weiße Taube eine verwunschene Nymphe war, rief er aus seinem Versteck heraus:

„Habt keine Angst vor mir, Nymphen, ich will euch helfen, eure Schwester zu retten.“

Die Nymphen erschraken vor der Menschenstimme, aber die Königin Weisan fragte:

„Wer bist du, Junge, warum rufst du uns und warum willst du unserer Schwester helfen?“

Thomas trat aus seinem Versteck heraus und sagte:

„Ich bin der, über den ihr eben gesprochen habt, des Kaufmanns Sohn, Thomas. Der böse Zauberer schickte mich das Glöckchen des Königs der Heinzelmännchen zu holen. Ich wusste nicht, dass die weiße Taube, die mir den Weg gewiesen hatte, euere verwunschene Schwester ist. Ich werde sie gern in die Freiheit entlassen.“

„Gehe und öffne schnell den Käfig. Beeile dich, Thomas, denn bevor die Sonne aufgeht, müssen wir die Erde verlassen und uns in den Gewässern verstecken“, sagte die Nymphenkönigin.

Thomas lief zum Baum, wo er den Käfig gelassen hatte. Sobald er dessen Türchen öffnete, flog die Taube heraus und wandte sich zum Bach, wo sie sich auf der ausgestreckten Hand der Nymphenkönigin niederließ. Die legte ihr schnell den Seerosenkranz um den Hals. Im selben Augenblick stand vor der Königin ein schönes Mädchen, das aufs Haar den übrigen glich, die Nymphe Selan. Der böse Fluch war gebrochen. Da ging der Mond unter und am Himmel zeigte sich das erste Morgenrot der aufgehenden Sonne. Die Nymphen verschwanden und Thomas hörte noch die Stimme der Königin:

„Warte hier die kommende Nacht auf mich.“

Der Knabe freute sich, dass ihm vielleicht die Nymphenkönigin selbst helfen wollte. Er legte sich wieder unter den Baum und schlief bald zufrieden ein. Als er erwachte, ging die Sonne schon langsam unter. Ungeduldig erwartete er den Abend, um mit der Königin sprechen zu können.

Endlich ging die Sonne unter. Der Tag verabschiedete sich und mit der Dämmerung breitete sich über das Land eine heilige Stille. Thomas spazierte neugierig am Bach entlang und wartete. Am Himmel erschien der runde Mond und der bläuliche Schein der Sterne glitzerte. Es war beinahe Mitternacht, als im Bach das Wasser stark aufschäumte, dann in die Höhe schoss und inmitten der glitzernden Wassertropfen die Nymphenkönigin erschien.

„Sei gegrüßt, Königin Weisan“, rief der Knabe erfreut, „so sehr habe ich auf dich gewartet.“

Die Nymphenkönigin trat aus dem Wasser heraus, lächelte Thomas freundlich zu und sagte:

„Gestern mussten wir uns schnell verabschieden und so konnte ich dir nicht einmal für die Befreiung unserer Schwester Selan danken. Du und dein Bruder seid in die Hände eines bösen Zauberers gefallen, Selan hat es mir heute erzählt und auch, wem er Böses angetan hatte. Der Zauberer ist ein Feind der Nymphen und der Heinzelmännchen. Er würde uns gern befehlen und über uns herrschen, aber bisher hatte er keine Macht über uns. Sobald er aber das goldene Glöckchen in den Händen hätte, müssten wir und alle Heinzelmännchen ihm gehorchen und ihm dienen. Weil er in das Reich der Heinzelmännchen selbst nicht eindringen kann, hat er dich geschickt, damit du ihm das Glöckchen beschaffst. Willst du denn zu seinem Handlager werden?“

„Ich will euch nicht schaden, liebe Königin, aber sage mir, was soll ich tun, damit der Zauberer nicht merkt, dass ich ihn getäuscht habe. Auch wenn ich ihm entkäme, mein Bruder Hans entkommt ihm nicht.“

„Hab keine Angst, Thomas, der Zauberer wird dir und auch deinem Bruder keinen Schaden zufügen. Ich selbst werde dir helfen. Warte morgen Abend wieder an dieser Stelle auf mich. Wenn du zu lange auf mich warten müsstest, rufe nur dreimal meinen Namen über das Wasser.“

Das Wasser im Bach spritzte wieder in die Höhe und die Nymphenkönigin verschwand. Thomas schaute den untergehenden Mond an. Er sah, dass es in der kommenden Nacht Vollmond würde. Wenn ihm am nächsten Morgen die Nymphenkönigin nicht helfen würde, müsste er zum Zauberer unverrichteter Dinge zurückkehren.

Und wieder brach eine stille Nacht an. Der Vollmond goss zwischen den Sternen seinen silbrigen Glanz aus. Thomas wartete ungeduldig auf das Erscheinen der Königin. In der Ferne rief die Eule Mitternacht aus, aber die Königin zeigte sich immer noch nicht. Er beugte sich also über den Bach und rief dreimal leise:

„Weisan, Weisan, Weisan!“

Aber auch dann erschien die Königin nicht. Dem Knaben war zum Weinen zumute. Er wusste nicht, was er tun sollte. Da ertönte hinter ihm eine leise Stimme:

„Thomas!“

Der Knabe drehte sich nach der Stimme um:

„Hier bin ich, wer ruft mich?“

Aus dem Wasser stieg die Nymphe Selan, die er geholfen hatte zu befreien und sagte:

„Unsere Königin bittet dich, schnell zur Quelle in den Wald zu kommen. Dort erwartet sie dich. Beeile dich, Thomas, solange noch Nacht ist, damit du rechtzeitig dort bist.“

Die Nymphe winkte ihm zum Abschied und verschwand.
Thomas freute sich sehr, dass die Königin ihr Versprechen nicht vergessen hatte und eilte durch den dunklen Wald zur Lichtung mit den drei Kiefern. Ihre dichten Nadeln strahlten wie immer silbrig im Mondschein, aber als er dorthin schaute, wo früher die Quelle war, bot sich ihm ein seltsames Schauspiel. Bei den Kiefernwurzeln stand jetzt ein schönes goldenes Tor, aus dem kleine Männchen mit Bärten bis zum Bauchnabel ausströmten. Jedes von ihnen hatte auf dem Kopf eine kleine spitzige Zipfelmütze, auf der vorne ein Edelstein wie eine Laterne strahlte. Die Heinzelmännchen trugen Spitzhacken, Schaufeln und Körbe in den Händen. Mit winzigen Schritten strömten sie schnell über die kleine Lichtung aus.

Da ertönte im Tor ein helles Schellen von Glöckchen. Die Heinzelmännchen traten auseinander und aus dem Tor kam eine kleine Kutsche ganz aus reinem Gold herausgefahren, in der in wunderschönem Geschirr vier lustige Eichhörnchen eingespannt waren. An ihren Hälsen schaukelten goldene Glöckchen, die mit ihrem Geklingel alle grüßten. Das Gespann lenkten zwei Heinzelmännchen. Thomas erblickte in der Kutsche den König der Heinzelmännchen. Er hatte eine goldene, mit Edelsteinen besetzte Krone auf dem Kopf und als Zeichen der größten Macht ein Zepter in der Hand. Die Heinzelmännchen traten auseinander und verbeugten sich ehrerbietig vor ihrem König.

Da erschien auf der Lichtung Weisan. Die Heinzelmännchen kannten sie gut und so erschreckte ihr Kommen keinen von ihnen, aber als sie Thomas erblickten, eilten sie schnell zum goldenen Tor. Der König ließ die Kutsche anhalten:

„Ich grüße dich, liebe Weisan, was bringst du uns Gutes?“

„Sei gegrüßt, lieber Richard, König der Heinzelmännchen. Heute bringe ich dir ungute Nachrichten. Der böse Zauberer hat sich wieder deines Königreichs erinnert und hat erneut Lust auf das goldene Glöckchen der Heinzelmännchen bekommen. Diesmal hat er als seinen Helfer und Boten diesen Knaben auserwählt, des Kaufmanns Sohn Thomas. Aber er hat unsere Schwester Selan gerettet, indem er geholfen hat, sie vom Fluch des Zauberers zu befreien und wir wollen ihm dies vergelten. Deshalb habe ich ihn heute auf die Lichtung eingeladen.“

„Helfen Sie bitte, Herr König“, stimmte Thomas mit Weisan an. „Mein Bruder Hans ist in den Händen des bösen Zauberers und wenn ich zu ihm nicht mit dem Glöckchen zurückkomme, sind wir beide verloren. Sagen Sie mir, was ich tun soll, um wenigstens meinen Bruder zu befreien und ihm wieder die menschliche Gestalt zurückzugeben.“

Auch Weisan und die übrigen Nymphen baten Richard um Hilfe für Thomas. Der König hörte sie alle an, lächelte freundlich und sagte:

„Wenn der Zauberer das goldene Glöckchen der Heinzelmännchen haben möchte, soll er es haben!“

Dann drehte sich der König zu den Heinzelmännchen und rief:

„Troddelin, Winzlin, Spöttlin, Käfalin!“ Sofort sprangen vier kleine, bärtige Heinzelmännchen her, verbeugten sich und riefen:

„Was befiehlst du, unser König?“

„Geht und bringt unser goldenes Glöckchen!“

Die Heinzelmännchen verbeugten sich erneut und liefen in das goldene Tor hinein. Nach einer Weile brachten sie auf einem dunkelroten samtenen Kissen ein kleines goldenes Glöckchen und reichten es dem König.

König Richard sagte zu dem Jüngling:

„Nimm also, lieber Thomas, unser Zauberglöckchen, aber gib es dem Zauberer nicht, bevor dein Bruder lebendig neben dir steht. Dann flieht ihr beide schnell.“

Thomas empfing vom König das Glöckchen und erzählte ihm die ganze Wahrheit darüber, warum er mit seinem Bruder Hans so eine weite Reise gewagt und auch, dass ihm der Zauberer versprochen hatte, Glückling wieder zurück in des Kaufmanns Haus zu schicken.

„Kann euch der Zauberer befehlen?“ fragte Thomas den König.

„Nein, das kann er nicht“, antwortete der König, „es sei denn, er hätte unser goldenes Glöckchen, nach dem er dich geschickt hat. Derjenige, der Besitzer des Glöckchens ist, kann wirklich allen Heinzelmännchen und allen Nymphen befehlen. Der Zauberer kennt seine Zauberkraft, darum möchte er es mit deiner Hilfe erlangen, um sich endlich unserer zu bemächtigen. Ich erkenne aber, dass du ein guter Bursche bist, Thomas, ich verzeihe darum auch deinem Vater und schicke euch Glückling zurück. Aber bedenke, ich verzeihe nur einmal!“

Thomas dankte wärmstens dem König für seine Hilfe und die freundlichen Worte. Sie verabschiedeten sich wie Freunde und der Jüngling bedauerte sehr, dass er das Glöckchen dem bösen Zauberer übergeben musste. Um seinen Bruder zu retten, hatte er aber keine andere Wahl.

Richard lächelte nur geheimnisvoll und zum Abschied machte er ihn noch einmal aufmerksam:

„Vergiss nicht, Thomas, dass du das Glöckchen nicht aus der Hand geben darfst, bevor du deinen Bruder wieder in menschlicher Gestalt siehst. Wenn der Zauberer mit dem Glöckchen klingelt, lauft möglichst weit von seiner Hütte weg, sonst wird es euch schlecht ergehen.“

Der König der Heinzelmännchen nickte ihm zum letzten Mal zum Gruß zu, winkte dem Kutscher, das Eichhörnchengespann setzte sich in Bewegung und die goldene Kutsche verschwand im Tor. Dieses schloss sich hinter der Kutsche und verschwand wie vom Erdboden verschluckt. An seiner Stelle glitzerte wie zuvor die klare, stille Quelle.

Die Nymphenkönigin Weisan, die bis jetzt neben Thomas gestanden hatte, trat zur Quelle. Sie pflückte dort einen Farnzweig und entnahm dem Kranz, den sie am Kopf hatte, eine Seerose.

„Nimm beides zur Erinnerung mit, lieber Thomas. Wenn du in dein Haus zurückkommst, wirf den Farnzweig zusammen mit der Seerosenblüte in den See in euerem Garten. Solltest du jemals meine Hilfe brauchen, rufe über dem See meinen Namen und ich werde kommen. Viel Glück, tapferer Bursche!“

Nach diesen Worten winkte sie ihm zum Abschied und verzog sich über der Quelle wie der Nebel.

Thomas blieb auf der Lichtung allein. In der einen Hand hielt er das goldene Glöckchen, in der anderen die Seerose in einen Farnzweig gewickelt. Nur dies war der Beweis, dass das alles nicht nur ein Traum war.

Am frühen Morgen begab sich Thomas auf den Rückweg. Diesmal musste er allein gehen, ohne seine Begleiterin, die weiße Taube. Aber die Freude, dass er seinem Bruder und seinem Vater Hilfe bringen würde, trieb ihn vorwärts und erlaubte ihm immer nur eine kurze Pause. Sechs Wälder hatte er schon hinter sich. An diesem Tag überfiel ihn eine große Müdigkeit, daher suchte er sich eine gut geschützte Schlafstelle. Die Vögel sangen über seinem Kopf, ringsum duftete betörend das Harz und das Moos war weich und kühl. Thomas betete noch, dass der morgige Tag glücklich zu Ende ginge und er bei Gesundheit seinen Bruder und seine Eltern wieder sehe. Dann, müde von der weiten Reise, schlief er ein.

Aus dem tiefen Schlaf holte ihn plötzlich die Stimme der Nymphe Selan, der er geholfen hatte, sich aus der Gefangenschaft zu befreien:

„Thomas, wach auf! Ich komme dir zu danken für meine Befreiung und bringe dir etwas zur Erinnerung“, sagte Selan und reichte Thomas eine glitzernde Fischschuppe.

„Bewahre sie gut auf, und wenn euch der böse Zauberer verfolgen sollte, lauf mit deinem Bruder zum Wasser, das wird euch retten. Wirf die Schuppe ins Wasser und rufe nach mir.“ Nach diesen Worten verschwand Selan.

Am Morgen durchquerte Thomas den letzten Wald und näherte sich der Hütte des Zauberers. Als er vor die halbzerfallene Hütte kam, rief er:

„Zauberer, ich komme zurück aus dem Königreich der Heinzelmännchen und bringe dir das goldene Glöckchen, wie du befohlen hast. Hol es dir!“

Der Zauberer öffnete das Fenster, sah Thomas vor der Hütte, lächelte ihm freundlich zu und lud ihn mit schmeichelnder Stimme herein:

„Komm nur herein, lieber Junge, hier droht dir schon keine Gefahr mehr. Komm, dich zu stärken und zu erholen nach so einer langen und anstrengenden Reise.“

Aber Thomas ließ sich nicht täuschen, er traute den schmeichelnden Worten des Zauberers nicht und antwortete:

„Ich trete nicht mehr in deine Hütte ein, Zauberer, und das Glöckchen gebe ich dir nicht, bevor ich nicht meinen Bruder lebendig neben mir sehe!“

Der Zauberer runzelte böse die Stirn:

„Denkst du etwa, ich will dich betrügen? Gib mir sofort das Glöckchen, sonst wird es dir schlecht ergehen!“

Thomas schreckte vor seinem Zorn nicht zurück und wiederholte seine Worte:

„Ich gebe dir das Glöckchen nicht eher, als ich meinen Bruder sehe.“

Als der Zauberer erkannte, dass er im Bösen nichts ausrichten würde, sagte er:

„Überzeuge dich also, dass ich dich nicht betrüge.“

Er ging zum zweiten Fenster, befreite aus dem kleinen Käfig den Vogel, flüsterte eine Zauberformel und der Vogel verwandelte sich in Hans.

Sobald ihn Thomas sah, rief er:

„Hans, komm aus der Hütte heraus!“

Da sprach der Zauberer:

„Ich lasse Hans nicht früher heraus, eher du mir nicht das Glöckchen gibst. Überlege es dir schnell, denn sonst siehst du deinen Bruder nie wieder lebendig!“

Thomas wollte den Zauberer durch Widersprechen nicht allzu verärgern, darum sagte er:

„Damit wir nicht einander täuschen können, soll sich Hans in die Tür stellen. Sobald ich dir das Glöckchen durchs Fenster reiche, kommt mein Bruder heraus.“

Der Zauberer war einverstanden und Hans stellte sich in die offene Tür. Thomas nahm das Glöckchen und reichte es durch das Fenster dem Zauberer. Dieser griff ungeduldig nach dem Glöckchen. Hans sprang schnell aus der Hütte und stellte sich an die Seite seines Bruders. Beide Knaben waren neugierig was weiter geschah.

Der Zauberer lachte fröhlich und rief:

„Du weißt gar nicht, Thomas, was für eine kostbare Sache du mir gebracht hast.“

Thomas antwortete:

„Vielleicht weiß ich´s nicht, vielleicht weiß ich´s. Aber jetzt bist du dran, Zauberer, zu erfüllen, was du versprochen hast. Gib uns unser Heinzelmännchen Glückling zurück, wenn du jetzt die Macht hast, den Heinzelmännchen zu befehlen.“

Der Zauberer lachte heiser und brummte:

„Das ganz bestimmt. Ich habe für euer Heinzelmännchen eine andere Arbeit, als ihn in die Häuser zu schicken, das menschliche Glück zu hüten.“

Und der Zauberer klingelte heftig mit dem Glöckchen. Sobald aber seine silberne Stimme erklang, erhob sich ein starker Wind, durch die aufgewirbelte Luft rauschten riesige Falkenschwingen auf, und als sich der Zauberer von seinem Schrecken erholte, hielt schon der Falke das Glöckchen im Schnabel. Schnell erhob er sich in die Luft und im nächsten Augenblick war er nur noch ein schwarzer Punkt in den Wolken.

Da ertönte aus der Ferne König Richards Stimme:

„Vergeblich hast du, Zauberer, über den leichten Sieg gejubelt. Vergeblich hast du gehofft, dass wir dir gutwillig unseren Schatz herausgeben. Ich hätte dich für deine Kühnheit auf eine andere Weise bestrafen können, aber ich wollte dich nur ein bisschen necken und dir deine Bedeutungslosigkeit vorführen. Wir alle wissen, wie gern du uns dir untertan machen würdest, wie gern du über uns herrschen und uns befehlen würdest, aber alle deine Bemühungen sind vergeblich. Das Geschlecht der Heinzelmännchen und der Nymphen war immer frei und kann sich seine Freiheit bewahren. Und so wird es für alle Zeiten bleiben.“

Nachdem Richard zu Ende gesprochen, rollte der Donner und vom Himmel schlug ein Blitz herunter, der des Zauberers Hütte in Flammen setzte. Die Brüder ergriffen die Flucht. Sie rannten, was sie konnten, hörten aber immer ein Getrampel hinter sich. Sie sahen, dass ihnen der Zauberer auf den Fersen war. Die Entfernung zwischen ihnen wurde immer geringer und der Zauberer hatte sie schon beinahe eingeholt.

„Ihr seid verloren!“ hörten die Brüder hinter sich des Zauberers wütende Stimme.

„Hans, lauf schnell hinunter zum Bach!“ rief Thomas dem Bruder zu. In dem Augenblick erinnerte er sich der Worte der Nymphe Selan und zog während der Flucht die geschenkte Schuppe aus der Tasche heraus. Als sie den Bach erreicht hatten und beide auf die andere Seite gesprungen waren, warf Thomas die Schuppe ins Wasser und rief verzweifelt:

„Selan, bitte hilf uns. Der Zauberer verfolgt uns!“

Aber Selan zeigte sich nirgends und das Wasser im Bach floss ruhig wie immer. Inzwischen kam der Zauberer zum Bach gerannt. Er stieß sich ab und wollte auch auf die andere Seite springen. In diesem Augenblick aber wallten die ruhigen Gewässer des Baches auf und schossen im mächtigen Strom in die Höhe. Sie schlugen so heftig über dem Zauberer zusammen, dass sie ihn mit sich rissen und das Wasser sich mit Getöse über ihm schloss. Die Brüder umarmten sich glücklich und dankten Gott, dass sie all den Gefahren entkommen waren. Dann machten sie sich auf den Weg nach Hause. Beide wünschten sich so sehr, ihre lieben Eltern wieder in die Arme zu nehmen.

Eines Abends, als der Kaufmann gerade unter einem Baum im Garten saß und zusammen mit seiner Frau traurig an seine beiden verlorenen Söhne dachte, die ihr beider größtes Glück waren, erschienen diese gesund und munter vor ihnen im Garten. Da kam Jubel und Freude auf! Die Mutter brachte alle Leckerbissen, die sie im Haus fand und es folgte eine lange, kein Ende nehmen wollende Erzählung darüber, was die Knaben auf ihrer Reise alles erlebt hatten.

Plötzlich ertönte ihnen im Rücken eine dünne Stimme:

„Und ich bin auch schon da.“

Alle drehten sich überrascht um. Auf dem Gesims des Gartenhäuschens sahen sie ein kleines Männchen sitzen, das in der winzigen Hand eine blaue Mütze hielt. Eine blaue Mütze mit einem in allen Regenbogenfarben strahlenden Edelstein.

„Schaut her, das ist doch unser Heinzelmännchen Glückling“, rief erfreut der Kaufmann, „sei uns gegrüßt, edler Gast!“

„Ich hatte schon befürchtet, dass ich zu euch nie mehr zurückkomme, aber unser Herr König selbst hat mich hergeschickt. Er grüßt euch sehr und wünscht, dass es euch immer gut gehen möge und dass Glück euch das ganze Leben lang begleite.“

Thomas goss in die Gläser Rotwein ein und alle stießen an:

„Es lebe Richard, der König der Heinzelmännchen, und unser lieber Freund Glückling!“

Dann gingen sie zusammen mit dem Heinzelmännchen zum kleinen Gartensee, wo der Kaufmann früher Goldfische gezüchtet hatte, Thomas warf das Geschenk der Nymphenkönigin ins Wasser – die in einen Farnzweig eingewickelte Seerosenblüte. Die Oberfläche des Sees fing sich langsam an zu kräuseln und in der Mitte begannen kleine Wassertropfen immer höher und höher zu sprudeln, bis sie eine wunderschöne Fontäne bildeten. Die ganze Familie beobachtete gerührt die strahlende Herrlichkeit. Da leuchtete im Wasser ein heller Schein auf und in den glitzernden Wassertropfen erschien die Nymphenkönigin Weisan. Sie lächelte Thomas zu und sagte mit freundlicher Stimme:

„Dein Glück, Thomas, hast du dir verdient, nun musst du schauen, dass du es auch festhalten kannst, ein zweites Mal könnte ich dir nicht mehr helfen.“

Weisan hielt in der Hand einen Strauß aus Seerosen. Als sie zu Ende gesprochen hatte, streute sie die Blüten über die gekräuselte Seeoberfläche aus.

„Die Fontäne und die Seerosen lasse ich dir hier zur Erinnerung, Thomas, damit du, wenn du hier mit deiner Familie sitzen wirst, an mich denkst. Lebt hier wohl miteinander.“

Sie winkte allen zum Abschied und verschwand im hellen Schein der Fontäne, deren Tropfen im Schein des Mondes weiter glitzerten wie regenbogenfarbene strahlende Edelsteine.

„Behalte gut, was dir Weisan gesagt hat“, ließ sich das Heinzelmännchen Glückling hören, „zum zweiten Mal könnten wir euch wirklich nicht mehr helfen.“

„Unser liebes Heinzelmännchen, wie können wir uns euch allen für eure Güte erkenntlich zeigen?“ fragte Thomas Glückling. Und das Heinzelmännchen antwortete ihm ernst:

„Wir verlangen keine Belohnung, aber falls du uns wirklich erfreuen willst, dann hilf Anderen ebenso uneigennützig, wie wir dir geholfen haben. Hilf all denen, die Hilfe brauchen und dich darum bitten. Wenn du dich nach diesem Rat richtest, kannst du sicher sein, dass nicht nur du, sondern eure ganze Familie auch ohne mich glücklich und zufrieden sein wird. Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, dass er nur zu seinem eigenen Vorteil arbeitet, sondern dass er sich innerhalb seiner Möglichkeiten auch für das Glück der Anderen einsetzt. Wenn alle Menschen in Liebe und Eintracht leben und einander helfen würden, dann wäre mehr Freude und Glück auf der Welt.“

Als das Heinzelmännchen zu Ende gesprochen hatte, verbeugte es sich vor allen zum Abschied, dann setzte es sich seine kleine blaue Mütze mit dem glitzernden Edelstein auf den Kopf und verschwand für immer aus ihren Augen. Sie riefen es, sie baten es, sich ihnen noch einmal zu zeigen, aber alles Rufen und Bitten war vergeblich. Seit dieser Zeit hat keiner von ihnen Glückling je wieder gesehen. Die Familie des Kaufmanns richtete sich nach des Heinzelmännchens Ratschlägen. Sie lebte glücklich und zufrieden für viele Generationen in der alten Stadt, und vielleicht lebt sie dort noch heute.

Ihren Söhnen und Töchtern begegnet ihr überall unter uns. Ihr erkennt sie wirklich leicht: sie helfen den anderen Menschen, zu leben, und das ist eine große Aufgabe – eine Aufgabe, die eines guten Menschen würdig ist.

„Lasst die Kinder nicht weinen! Langer Regen Schadet den BlŘten sehr.“
(Jean Paul)

Vom Himmelslamm und dem Gelobten Land

Unsere Folge mńrchenhafter Geschichten vom GlŘck geht langsam zu Ende. Sechs Mńrchen stammen aus lange vergangenen Zeiten, das siebte Mńrchen wird uns aber in eine ganz andere Zeit fŘhren. Wohin? Seid ihr schon sehr neugierig? Nun, dann lasst euch Řberraschen.

Bevor ich anfange euch die letzte Geschichte zu erzńhlen, muss ich gestehen, dass es im Gegenzug mein jŘngster Sohn war, der sie mir erzńhlt hat.

Er hat sie mir erzńhlt, als ich einmal sehr traurig war, vielleicht um mich – oder uns beide – etwas aufzuheitern. Wer weiß. Aber jetzt h÷rt zu.

Als Jakob noch ein ganz kleiner Bub war, hat er zu seinen AusflŘgen in die Mńrchenwelt noch keine Wunder der Technik gebraucht. Es hat ihm gereicht in sein Bettchen zu schlŘpfen, sich tief in das weiche Federbett einzumummeln, so dass nur sein schwarzer Wuschelkopf hinausschaute, und die Augen zu schließen.

„TschŘß, Mama, ich muss schon fliegen“, konnte mein kleiner Prinz gerade noch sagen und ich habe mir lange vergeblich den Kopf zerbrochen, was die Worte eigentlich bedeuten sollten. Aber jedes Warum hat auch sein Darum und so hatte ich eines Tages, ein paar Jahre spńter, eine Erklńrung dafŘr bekommen.

Es war im Sommer in unserem Ferienhńuschen, wohin wir oft mit unserer Großmutter und dem Hund Benny fahren. Draußen hatte ein sch÷ner Sommertag begonnen und der kleine Jakob wachte auf wie die lachende Sonne. Er machte seine mandelbraunen Augen weit auf und rutschte noch fŘr eine Weile zu mir unter die Decke. Er schmiegte sich wie ein kleines, zufrieden schnurrendes Kńtzchen an und sagte:

„Wenn du willst, Mama, kann ich dir auch ein Mńrchen erzńhlen.“

Er streckte mir seine kleine Hand entgegen, auf der kleine, weißliche, durch die Meeresbrandung geschliffene Kieselsteine lagen.

„Schau, wie sch÷n wei– sie sind. Die habe ich vom weißen Lamm bekommen“, sagte mein Sohn ganz ernst.

Ich Řberlegte vergeblich, woher die Kieselsteine kommen konnten, und wollte mich unglńubig durch die Frage versichern:

„Wer hat sie dir gegeben, Jakob?“ und griff schnell dem Sohn an die Stirn, um zu fŘhlen, ob er nicht Fieber hatte. Das machen wir Erwachsene ÷fters, wenn wir uns keinen Rat wissen oder etwas nicht begreifen k÷nnen und auch nicht begreifen wollen. Spńter, nachdem mir mein Sohn versichert hatte, dass ihm ganz sicher nichts fehlte und mich mit einem verstńndigen, schelmischen Lńcheln beglŘckt hatte, fuhr er fort:

„Na weißt du, Mama, das Himmelslamm ist es doch, das mir Mńrchen an deiner Statt erzńhlt, wenn du keine Zeit hast. Und wie viele es kennt! Da schließe ich einfach so die Augen, schau Mama, dann rufe ich es damit es mich holen kommt und es sagt nur:

„Also aufsitzen, Jakob, und halte dich fest, damit wir das goldene Gl÷ckchen nicht verlieren.“ So, und wir fliegen schon. Manchmal kann ich mich von dir nicht einmal verabschieden.“

„Ach, und ihr fliegt einfach so vor euch hin“, sagte ich nachdenklich. Vielleicht wollte ich in dem Augenblick auch fliegen, konnte es aber irgendwie nicht zustande bringen.

Ich dachte, dass damit die Erzńhlung des Sohnes zu Ende war, aber Jakob sagte nach einer Weile:

„Willst du, Mama, ich werde dir erzńhlen, was ich schon alles mit dem Lamm gesehen habe.“

Wie konnte ich nicht wollen, es war wie ein Seelenbalsam.

Ich nickte schweigend und mein Sohn fing langsam an zu sprechen:

„Das Lamm hat mir erzńhlt, dass jeder Mensch einen eigenen Stern am Himmel hat. Ganz und gar jeder, weißt du. Alle Menschen wollen den Sternen nńher kommen, vielleicht wollen sie strahlen wie sie. Aber das ist sehr schwierig, oft verbrennen sie sich dabei die Hńnde bis aufs Blut, aber trotzdem versuchen sie es immer und immer wieder“, verkŘndete der Bub bewundernd.

„Und weißt du, Jakob, warum es so ist?“ fragte ich.

„Ich weiß es, das Lamm hatte es mir zugeflŘstert, die Menschen wollen scheinbar besser und reiner werden, vielleicht so wie die Sterne, aber es gelingt ihnen nicht.“

„Ja, mein kleiner Prinz,“ dachte ich traurig, „bisher gelingt es ihnen nicht allzu sehr.“

Als Jakob sah, dass ich schon wieder traurig wurde, fuhr er schnell fort:

„Wie wir so zusammen Řber den Himmel streiften, hatte mir das Lamm schon alle Sterne gezeigt und auch den Mond. Es hatte mir ein sch÷nes Mńrchen von ihnen erzńhlt. M÷chtest du es h÷ren, Mama?“

„Das weißt du doch“, antwortete ich neugierig und zog meinen Sohn an mich.

„Ich werde es dir also erzńhlen“, sagte Jakob und fing an zu erzńhlen.

Von den ungehorsamen Sternen und ihrem Himmelshirten

„Der Mond und die Sterne wohnen zusammen im Himmel. Der Mond ist der Vater aller Sterne und sorgt fŘr sie ebenso gut, wie ein Hirte fŘr seine Schafe und ein Vater fŘr seine Kinder. Aber die Sterne sind ruhelos, genau wie wir Kinder. Sie jagen Řber den Himmel, tollen herum und der Mond kann sie am Morgen, wenn sie schlafen gehen sollen, nie zusammen bekommen. Sie reißen ihm immer aus, ńrgern ihn, sind eben genau so flink wie ich. Und der Mond, der Arme wird von lauter Sorgen immer dŘnner und dŘnner. Wenn er dann vor Sorge fast verschwindet und nur eine kleine Sichel von ihm Řbrig bleibt, erschrecken die Sterne, dass sie am Himmel ganz alleine zurŘck bleiben k÷nnten. Sie versprechen ihm sofort, dass sie jetzt nur noch brav sein wŘrden und er, der Gute, glaubt es ihnen und nimmt dann wieder zu, und so geht es immer und immer weiter im Kreis herum.“

„Das war aber ein sch÷nes Mńrchen, Jakob. Und was hat es dir noch erzńhlt, das weiße Lńmmchen?“ forschte ich weiter nach.

„Nun, einmal, weißt du, da war ich sehr, sehr brav und kein bisschen b÷se, hatte mich mein Lamm zur Belohnung in ein fernes Land mitgenommen. Es hatte mir gesagt, ich solle gut aufpassen, dass es auf der Welt einmal genau so sein wird. Auch du warst dort bei mir, Mama.“

„Wo war ich denn?“

„Na, dort, in dem Land, mit mir. Ich wŘnschte mir so sehr, dass du dabei wńrst und da hat mir das Lamm meinen Wunsch erfŘllt.“

„Ja sicher, wie k÷nnte es auch anders sein“, bejahte ich ernst und wunderte mich schon Řber gar nichts mehr. Ich nahm meinen Sohn in Arm und h÷rte mit Acht wie es weiter ging.

Der Bube hielt inne.

„Und wohin waren wir eigentlich geflogen, Jakob? Wie hieß das Land?“

„Ich weiß nicht, Mama, es hatte keinen Namen. Das war nicht wichtig. DafŘr war es dort sehr, sehr sch÷n und dir hat es dort auch gefallen. Es war dort so sch÷n, dass du von dort gar nicht zurŘck wolltest“, sagte mein Sohn ernst.

„Wirklich? Erzńhle schon weiter, du mein weißes Lńmmchen, erzńhle weiter“, forderte ich meinen Sohn ungeduldig auf.

„Wir waren lange, lange geflogen. Als wir in dem Land angekommen waren, landete das Lamm mit uns unmittelbar an einem Meeresstrand. Es weiß, dass ich das Meer sehr gern habe, weißt du? Fast den ganzen Tag lang sind wir zusammen am Strand entlanggelaufen, haben in den Wellen herumgespritzt, Muscheln gesammelt und die M÷wen, die vor uns gar keine Angst hatten, gefŘttert. Diese Kieselsteine habe ich von dort. Das Lamm hatte es mir erlaubt, und du auch. Sie besitzen einen Zauber und ich habe sie zur Erinnerung.“

„Gut“, bejahte ich ergeben, „du hast sie zur Erinnerung. Wenn wir beide es dir erlaubt haben, musst du sie sicher behalten“, nahm ich das Spiel meines Sohnes auf. Der hat mich aber gleich mit seiner nńchsten ernsten Bemerkung zurŘck auf die Erde geholt:

„Das muss ich, Mama, wie sollte ich sonst das Land einmal wiederfinden?“

Ja, es klang ziemlich logisch. „Wie solltest du es sonst wieder finden“, konnte ich einen traurigen Seufzer nicht abwehren. Ich dachte, dass das Mńrchen jetzt definitiv zu Ende sei, aber mein Sohn streckte sich ein bisschen und setzte seine Erzńhlung fort:

„Und erinnerst du dich, Mama, wohin wir dann weiter geflogen sind? Na zu den Schńfchen. Das Lamm wollte, dass ich sie streichle, weil es seine Schwestern und BrŘder sind.“

„Und ließen sie sich streicheln?“

„Ja, und sie hatten einen sehr zottigen Pelz, so einen weichen, genau so wie der wollige Kater, mit dem ich in der Stadt geschmust habe.“

„Du sagst in der Stadt, Jakob? Sind wir dann in eine Stadt geflogen?“

„Ja, in eine große Stadt, aber die Menschen waren dort anders.“

„Wie anders, Jakob?“ fragte ich verstńndnislos.

„Na anders. Netter, sie hatten sich lieb und taten einander kein Unrecht, sie sprachen miteinander Řber ganz alltńgliche Sachen, sie stießen auf der Straße nicht gegeneinander, eilten nicht so sehr und haben doch alles Wichtige erledigt. Und ihre Augen strahlten wie die Sterne, erinnerst du dich, Mama?“

„Du sagst, dass sie alles erledigten und ihre Augen hńtten noch gestrahlt?“ versicherte ich mich unglńubig und erinnerte mich nebenbei an die lebenslange alltńgliche Schufterei.

„Ja, Mama, sie haben alles Wichtige erledigt und dazu ihren Kindern jeden Abend noch ein Mńrchen erzńhlt“, versetzte unschuldig mein kleiner Prinz.

Bei den Worten tat es mir ums Herz weh.

„Und dann sind wir in der Stadt zu einem großen Haus geflogen um es anzuschauen. Im Garten waren eine Mutter und ein Vater und sie hatten elf Kinder, ganz verschiedene Kinder“, sagte mein Sohn bewundernd.

„Wie verschieden, Jakob?“, fragte ich verstńndnislos, „Kinder sind doch immer und Řberall Kinder, oder etwa nicht?“

„Aber diese Kinder waren wirklich jedes anders, aber, du hast vielleicht recht, Mama, eigentlich waren sie auch gleich.“

„Verschieden und doch gleich?“ Jetzt h÷rte ich v÷llig auf, meinen Sohn zu verstehen.

„Wie meinst du es, Jakob?“

Und eine Erklńrung bekam ich fast sofort.

„Also, die Kinder hatten verschiedene Farben, weißt du? Aber sie waren trotzdem eine große Familie und sie verstanden einander, ausnahmslos alle. Es war sch÷n. Das Lamm hatte mir gesagt, dass es so sein soll und dass es auf der Erde schon mal so gewesen war.“

„Wahrscheinlich ja, Jakob, es war so, und du hast sie auch alle verstanden?“

„Ja, Mama, das Lamm hat es mich gelehrt. Es war ganz einfach, jeder konnte es.“

„Und wohin sind wir dann noch geflogen?“

„Dann? Dann war es schon Abend und ich wollte noch einmal zum Meer und so hat mich das Lamm hingetragen.“

„Und ihr habt dort wieder miteinander herumgetollt, nicht wahr, mein kleiner ausgelassener Bub?“, fragte ich.

„Nein, Mama“, sagte mein Sohn ernst, „Ich habe dort geholfen.“

„Ach, du hast dort also geholfen? Und womit?“

„Ich habe auf dem Strand Wńgelchen geschoben.“

„Wńgelchen? Mit Muscheln oder mit Sand und weißen Kieselsteinen?“, ich verstand immer noch nicht.

„Nein, das waren Ausflugswńgelchen, weißt du?“

„Ach so, Jakob“, sagte ich, obwohl mir immer noch nicht klar war, was der Bub meinte.

„Na, es waren nicht Wńgelchen, eher Sessel auf Rńdern. Wir haben in ihnen die großmŘtter und großvńter aus der Stadt spazieren gefahren. Damit sie auch das Meer genießen konnten, wenn sie schon nicht mehr selbstńndig hingehen konnten. Kannst du dich nicht mehr erinnern, Mama? Und auch die Kinder, die nicht gehen k÷nnen, damit sie Freude haben, die wollen doch auch spielen. Sie haben mir erzńhlt, dass sie dort in der Stadt, jeden Tag zum Meer fahren. In diesem Land ist niemand allein und niemand ist traurig. Und das ist deshalb so, weil dort die Liebe, die Einigkeit und das GlŘck zu Hause sind, wie in deinen Mńrchen, weißt du?“


Mein Kopf drehte sich von Jakobs Erzńhlungen. Trńnen schossen in meine Augen. So sch÷n wńre es, die Geschichte meines Sohnes glauben zu k÷nnen.

Aus meiner GrŘbelei hatte mich Bennys wŘtendes Gebell und großmutters laute Stimme gest÷rt:

„Der Hund hat schon wieder einen Igel. Kommt mir schnell einer helfen!“

Es war Zeit aufzustehen. Das weiße Lamm war schon lńngst zu seinen himmlischen BrŘdern und Schwestern zum Firmament zurŘckgekehrt und auf der Erde begann ein neuer Tag.

Nur, auf dem KŘchentisch lagen die weißen Kieselsteine aus dem Meer, die weiß Gott woher gekommen waren.

Und vielleicht war es nicht nur ein Traum.
Es wńre doch so sch÷n, so ein Land zu haben,
wo der eine Mensch dem anderen ein Mensch wńre,
und vielleicht sollte jeder von uns
ein bisschen Kind bleiben:
Vielleicht ist auch dies das GLßCK und der SchlŘssel
zum Gelobten Land!

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